Alternative Bruderküken?

Kükenmord: Kein Ende in Sicht

Lesezeit:
5 minuten

21 November 2016

Titelbild: Philip Brown/Unsplash

Sie schlüpfen zusammen, aber die männlichen Küken werden kurz danach getötet. Für sie hat die Industrie keine Verwendung

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21 November 2016
Über 40 Millionen männliche Küken werden in Deutschland jährlich gleich nach dem Schlüpfen getötet. In Werner Hockenbergers Brüterei dürfen zumindest einige überleben. Ist das ein Anfang?

Links. Rechts. Leben oder Tod. Im Sekundentakt greifen die Hände in die Kiste und sortieren aus. Weibchen oder Männchen? Ein kurzer Wurf, dann landen die einen in der Impfbox und dürfen leben. Die anderen werden noch heute in der Kühltruhe mit dem Gas enden. Meterhoch stapeln sich Kisten mit frisch geschlüpften Küken in einem nüchternen Industrieraum. Werner Hockenberger, ein freundlicher Endfünfziger mit grauem Bart, steht mit einer Mitarbeiterin am Sortiertisch. Im Schein einer starken Lampe arbeiten sie sich routiniert durch Tausende von piepsenden Küken. Alle flauschig weich und niedlich. In der Luft hängt der Staub von ihren Federn.

Hockenberger unterbricht seine Arbeit und führt in den Flur nebenan. Zwischen der Brutmaschine, in die die befruchteten Eier geschoben werden, und der Schlupfmaschine, aus der die Küken rund zwanzig Tage später herauskommen, steht eine Kühltruhe, davor eine Gasflasche wie vom Campingplatz. Von ihrem Verschluss führt ein Schlauch ins Innere der Truhe. Werner Hockenberger klappt den Deckel hoch und gibt den Blick frei auf eine Lage winziger lebloser Leiber. Immer mittwochs nach dem Sortieren kommen die männlichen Küken in diese Truhe, Kohlendioxid wird eingeleitet, der Deckel geschlossen. Die Tiere, gerade zur Welt gekommen, werden ohnmächtig und ersticken. Innerhalb von einer Minute sind sie tot.

Effizienz vor Leben

Zwischen 42 und 50 Millionen männliche Küken werden jedes Jahr in Deutschland direkt nach dem Schlupf getötet: Es sind die Brüder der Legehennen, die in dem auf Effizienz getrimmten System der Geflügelwirtschaft keinen Wert bringen: Weder können sie Eier legen noch taugen sie als Fleischhähnchen. Versucht man sie zur Schlachtreife großzuziehen, brauchen sie viermal so viel Zeit wie spezielle Masthähnchen – und dann haben sie immer noch weniger Fleisch auf den Knochen. Damit sind sie gnadenlos schlechte Futterverwerter. Und das kostet. Ressourcen und Geld.

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Die Truhe in Werner Hockenbergers Bio-Brüterei im baden-württembergischen Eppingen-Elsenz ist ein bewusstes Provisorium, eine Art Mahnmal. Der grauhaarige Chef im weißen Arbeitskittel will sich auf das Töten nicht einrichten, er verfolgt ein ganz anderes Ziel: es zu beenden. Am liebsten sofort – wenn es ginge. Hockenberger engagiert sich für das Leben der männlichen Küken, unter anderem als Lieferant der Bruderhahn-Initiative, die durch einen Preisaufschlag auf die Eier der Hennen die Aufzucht ihrer Brüder finanzieren will; und bei den Bemühungen um die Zucht von Zweinutzungshühnern. „Wir versuchen, so viele Hähne wie möglich lebend aus unserer Brüterei zu kriegen“, sagt er. „Aber bis jetzt ist das eine Nische in der Nische in der Nische.“ 1,1 Millionen Hennenküken kommen jährlich bei Hockenberger zur Welt – und ebenso viele Männchen. Von ihnen überleben nur 70 000 Tiere. Für mehr findet er keine Abnehmer.

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Seit Jahrzehnten ist die Tötung von Eintagsküken gängige Praxis. Inzwischen sehen viele Verbraucher sie aber kritisch – und Brütereien wie die von Werner Hockenberger stehen am Pranger. Auch viele Politiker, die es besser wissen müssten, unterstellen nun, dass die Brütereien aus reiner Profitgier töten und es einfach lassen könnten, wenn sie nur wollten.

„Ich weiß nicht, was mich wütender macht“, sagt Hockenberger: „Die Tatsache, dass wir Hähne töten müssen, oder die verlogene Diskussion darüber. Jeder fühlt sich berufen, darüber zu diskutieren, aber keiner will die Geldbörse aufmachen. Ich würde liebend gerne alle männlichen Küken lebend aus meiner Brüterei herausgeben, wenn es für sie eine Verwendungsmöglichkeit gäbe. Die Brütereien sind nicht das Problem – aber sie haben das Problem, das alle gemeinsam verursachen.“

Die Suche nach Alternativen zum Kükenschreddern

Hockenberger betreibt eine vergleichsweise kleine Brüterei. In dem schmucklosen Flachbau am Rande von Elsenz, ein Dorf mit knapp 2000 Einwohnern nahe Heilbronn, ließen schon seine Eltern Küken schlüpfen. Zwischenzeitlich führte ein Pächter das Geschäft, aber als der es an den Rand der Pleite gewirtschaftet hatte, zog Hockenberger junior 2006 die Reißleine – und stieg selbst ein. Der fünffache Vater hat nun zwei Firmen: eine Sicherheitsfirma mit 90 Mitarbeitern in Heidelberg und „die Hühnerei“, wie er sie nennt.

Bei aller Flapsigkeit im Ton: Seine Verantwortung für Leben und Tod nimmt Hockenberger ernst. Kurz nach seinem Wiedereinstieg in den Familienbetrieb stellte er auf Bio um und fing an, einzelnen Bauernhöfen auch männliche Küken zu Mastzwecken zu liefern. Gemeinsam mit Partnerfirmen betreibt er das Projekt Stolzer Gockel. Als einzige Brüterei ist Hockenberger bei der Bruderhahn-Initiative dabei, seit deren Start 2012. Außerdem hat er sich der Initiative Ökologische Tierzucht gGmbH angeschlossen, die Gelder zur Züchtung eines Zweinutzungshuhns speziell für den Biomarkt sammelt und erste Zuchtversuche startet.

Hockenberger ist also so ziemlich an jedem Alternativprojekt zur Kükentötung beteiligt. Nur eines lehnt er ab: die Inovo-Geschlechtsbestimmung – also die Geschlechtsbestimmung im Ei. Ginge es nach Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt von der CSU, stünde schon im kommenden Jahr in der Brüterei Hockenberger keine Kühltruhe mit Gas mehr und auch keine Sortiererin im weißen Schutzkittel, sondern eine große Maschine zum Eiersortieren: Ungefähr am dritten Bruttag würde sie jeweils ein kleines Loch in die Eischale brennen, per Laser die Blutgefäße der Embryonen abtasten und daran erkennen, ob hier Männchen oder Weibchen wachsen. Die Eier mit den Männchen würden aussortiert, die Eier der Weibchen wieder zugeklebt und zurück zum Bebrüten geschoben. Alles vollautomatisch. Keine unappetitliche Kükentötung mehr.

Werner Hockenberger findet diese Eiervernichtung noch unappetitlicher als die Kükentötungen. Bei sich zu Hause stellt er Brezeln und Kaffee auf den großen Esstisch im Wohnzimmer. Das Haus hat zwei Eingänge: durch den einen geht es zum Wohnbereich der Familie, durch den anderen in die Pfarrei. Hockenbergers Frau ist die Gemeindepfarrerin von Eppingen. Ethik spielt in diesem Haushalt eine Rolle.

„Die ganze Diskussion um Kükentötungen ist doch nicht ehrlich“, sagt Hockenberger. „Natürlich ist es nicht schön, Küken am ersten Tag zu töten. Aber bei der In-ovo-Methode geht es doch um nichts anderes als die Tötung des männlichen Embryos eben schon im Ei. Und wenn man diesen Embryo getötet hat, können Sie das Ei in den Gully schmeißen – nach heutiger Rechtslage dürfen angebrütete Eier nicht verwendet werden.“ Bei ihm wäre das eine Pampe aus 1,1 Millionen Eiern, die direkt in die Tierbeseitigungsanlage ginge. „Bisher werden alle toten Küken aus meinem Betrieb an Zoos oder Falkner geliefert“, sagt er. „Das finde ich sinnvoller.“

Sterben die Hähne aus?

Leisten könnte er sich die In-ovo-Geschlechtsbestimmung sowieso nicht. Zurzeit schätze man die Kosten für die Maschine auf eine Million Euro. „Die müsste dann Tag und Nacht laufen, damit sie sich rentiert.“ Wer sich das leisten kann, ist klar: nur die großen Brütereien. Die Massenproduktion der Legehennen würde mit den neuen Maschinen einfach noch ein bisschen effizienter und reibungsloser laufen.

Für die Bemühungen um die Züchtung von Zweinutzungshühnern oder der sinnvollen Verwertung der Legehennenbrüder ist das keine gute Nachricht. „Eigentlich steigt der Absatz in unseren Bruderhahn-Initiativen kontinuierlich“, berichtet Hockenberger. „Außer, es fühlt sich wieder einmal irgendein Minister bemüßigt zu erzählen, es gebe 2017 die Geschlechtsbestimmung im Ei – und dann müssten keine Küken mehr geschreddert werden. Gehen Sie mal in einen Naturkostladen und versuchen, vor diesem Hintergrund teure Gockelprodukte zu verkaufen. Die fragen natürlich: Was legt Ihr Euch so ins Zeug? Ab nächstem Jahr gibt es doch gar keine Hähne mehr.“

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Landwirtschaftsminister Schmidt hat lange davon geredet, dass die In-ovo-Methode 2017 flächendeckend eingeführt werde und die Brütereien dann „keine Ausrede mehr“ hätten. Federführende Forscher versuchen schon lange, Schmidts Elan zu bremsen. Im kommenden Jahr könne es allenfalls einen Prototyp geben, der dann auf seine Praxistauglichkeit getestet werden müsse, heißt es an der Uni Leipzig. Bis zur Marktreife für einen Einsatz der Maschine in Großbrütereien wird es nach Einschätzung der Wissenschaftler noch mal zwei Jahre dauern. Das wäre 2019.

„Ich hab’ immer gesagt: Wenn das kommt, will ich in Rente sein“, sagt Hockenberger. Und flachst: „Im Moment sieht es so aus, als ob ich das schaffe.“ Bis dahin wird er weiter in den verschiedenen Initiativen versuchen, mehr Bruderhähne und Gockelprodukte in den Verkauf zu bringen. „Im konventionellen Bereich, wo über den Preis verkauft wird, wird die Tötung im Ei kommen“, glaubt er. „Aber wir wollen denjenigen eine vernünftige Alternative bieten, die sagen: Ich gebe ein bisschen mehr aus dafür, dass auch die Hähnchen leben dürfen. Es gibt diese Nische im Markt, und sie wächst. Aber es ist natürlich ein unheimlich dickes Brett, das wir da bohren.“

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