Erfolge in Großbritannien

Goodbye, Antibiotika

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7 November 2018

Titelbild: Annie Spratt/Unsplash

In Ost­- und vor allem Südeuropa geben Land­wirte und Tierärzte immer noch immens hohe Mengen an Antibiotika

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7 November 2018
Der massenhafte Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung führt in bedrohlichem Ausmaß zu Resistenzen. Großbritannien wagt den langsamen Ausstieg – mit ersten Erfolgen

„Willkommen in der englischen Serengeti“, sagt Gwyn Jones. Der Waliser, 64, steht in T-Shirt und Shorts vor einer Wiese, die in der Hitze des ungewöhnlich heißen und trockenen Som­mers ganz braun geworden ist. Sie liegt in den South Downs, einem hügeligen Nationalpark eine Autostunde südwestlich von London. Im Schatten von ein paar Bäumen ste­hen seit gestern etwa 100 Rinder auf der Weide, um das letzte Gras abzufressen. Heute sind nur noch hier und da ein paar Bü­schel zu sehen. „Einen so heißen Sommer hatten wir seit 1976 nicht mehr“, sagt Jones. Das Vieh sieht dennoch zufrieden aus, gesund, gepflegt. Es frisst Gras, ist viel draußen an der Luft, hat Bewegung und Auslauf. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Tiere nur wenig Antibiotika brauchen.

Jones, der die meiste Zeit seines Lebens Landwirt war, ruft die Rinder zusammen. Sie gehören seiner Tochter. Er hilft oft mit auf ihrer konventionellen Farm, so wie heute. Mit beiden Händen formt er einen Trichter vor dem Mund, lockt mit gewollt hoher Stimme: „Come here! Come!“ Ein paar Tiere schauen auf, man hört ein erstes Muhen. Jones ruft weiter. Die ersten trotten los, dann setzt sich die ganze Herde in Bewegung und rennt auf das geöffnete Gatter zu. „Ich würde zur Seite gehen“, empfiehlt er.

Gwyn Jones ist auf einem Bauernhof in Snowdonia im Norden von Wales groß geworden, hat später eine Zeit lang am Moul­ ton College of Agriculture in Northhampton unterrichtet. An­ fang der 80er Jahre baute er südlich von London eine Milchfarm auf, die er – gemeinsam mit Partnern – über drei Jahrzehnte be­trieb. Aber seine wohl wichtigste Rolle, ein Ehrenamt, hat Jones vor vier Jahren übernommen: Er ist Vorsitzender der Organisa­tion „Ruma“ – und somit einer der wichtigsten Repräsentanten der Agrarindustrie in Großbritannien. Ruma steht übersetzt für „Allianz für einen verantwortungsbewussten Gebrauch von Me­dizin in der Landwirtschaft“ und bezeichnet sich selbst als „un­abhängige Non-Profit-Gruppe“. Zu ihrem wichtigsten Thema ist seit einigen Jahren der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung geworden. Der Ruma gehören alle großen Landwirtschaftsverbände des Landes an, ebenso wie der Veterinär­Verband British Veterinary Association (BVA). Alle drei Monate trifft sich der Vorstand, dem Gwyn Jones angehört, mit den Vertretern der 25 angeschlossenen Organisationen zum Austausch.

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Drohender Rückfall in dunkle Zeiten

Ruma gibt es in Großbritannien seit mehr als 20 Jahren. Der Zu­sammenschluss sei lange nichts als eine reine Industrieorgani­sation gewesen, die nur ihre eigenen Interessen im Blick gehabt habe, sagen Kritiker. Seit ein paar Jahren aber wurde die Allianz zur treibenden Kraft gegen den viel zu massiven Einsatz von Antibiotika in modernen Ställen. Und: Dank Ruma nehmen die Briten in diesem Kampf heute international eine Führungsrolle ein.

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Anlass für den Wandel war 2014 die Politik: Der damalige Premierminister David Cameron erklärte öffentlich, die Welt drohe in „die dunklen Zeiten der Medizin“ zurückzufallen, falls es nicht gelingen sollte, die Ausbreitung Antibiotika­resistenter Krankheitserreger zu stoppen. Cameron erinnerte an frühere Erfolge britischer Vorstöße, etwa beim Kampf gegen den HIV­ Erreger oder Krankheiten wie Polio – Großbritannien hatte in beiden Fällen den globalen Kampf angeführt. „Ich denke, dass es richtig ist, dass wir nun wieder eine Führungsrolle einnehmen.“ Englands Chief Medical Officer Sally Davies, die ranghöchste Be­raterin der Regierung in medizinischen Fragen, stellte sich an Camerons Seite. Auch sie hielt die rasche Ausbreitung von Anti­biotika­-Resistenzen und die Zunahme von Superkeimen für eine der größten Gefahren für die menschliche Gesundheit.

Also beauftragte der Premierminister den ehemaligen Chef­ökonom der Investment­ Bank Goldman Sachs, Jim O’Neill, mit der Klärung der Frage, welche Faktoren bei der Ausbreitung Anti­biotika­resistenter Krankheitserreger eine Rolle spielen. O’Neills umfassende Studie erschien 2016 und fand weltweit Beachtung. Auf den Einwand, warum man gerade einen Ökonomen beauftragt habe, entgegnete O’Neill im Vorwort, man habe ihm ge­sagt, dass viele der drängendsten Probleme im Zusammenhang mit Antibiotika­-Resistenzen wirtschaftlicher Natur seien.

Seine Studie kam zu folgendem Ergebnis: Die meisten Wissen­schaftler sind sich inzwischen darin einig, dass ein übermäßi­ger Einsatz von Antibiotika bei Nutztieren zur Ausbildung An­tibiotika­resistenter Bakterien führen kann, die auch Menschen befallen können. Von 139 Studien (O’Neill schloss im Sinne der Unabhängigkeit jene aus, die von Industrie oder Behörden beauf­tragt worden waren), belegten mehr als zwei Drittel einen Zu­sammenhang zwischen dem Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft und Resistenzen beim Menschen. O’Neills Forderung: Antibiotika in der Nutztierhaltung bis Ende der 2020er-Jahre auf 50 Milligramm pro Kilogramm Fleisch reduzieren. Weltweit.

Noch einen Schritt weiter ging Premier Cameron: Er forderte die britischen Landwirtschaftsverbände auf, diesen Wert bereits 2018 zu erreichen. „Ich habe im Vorstand damals gesagt: Lasst uns der Regierung sagen, dass wir das schaffen. Aber auf freiwil­liger Basis“, sagt Gwyn Jones. Sein Vorstoß kam nicht besonders gut an, es gab „massive Debatten“. „Alle waren sehr besorgt.“ Am Ende stimmten ihm die anderen Vorstandsmitglieder zu.

Landwirte unter Druck

Die Zeiten für Großbritanniens Landwirte sind schwieriger ge­worden. Immer weniger Menschen sind Vollzeit­Bauern. Bei der Zählung vor acht Jahren waren es noch 420.000 – und damit fast 100.000 weniger als zehn Jahre zuvor. Aufgrund des Preisdrucks auf dem europäischen Markt sind die Einkommen in der Agrar­branche vergleichsweise niedrig. Vor allem junge Briten suchen sich lieber andere Jobs. Das Durchschnittsalter von Hofbesitzern liegt bei 59 Jahren.

Großbritannien ist in Sachen Lebensmittel stark auf Importe angewiesen, etwa die Hälfte kommt aus dem Ausland. Bis 2010 setzen nur 2,4 Prozent der Landwirte auf biologischen Anbau. Das könnte sich bald ändern: Michael Gove, Minister für Umwelt und Ernährung, kündigte Anfang 2018 an, dass die britischen Landwirte nach dem Brexit für einen Umstieg auf Bio mehr Zuschüsse von der Regierung bekommen sollen.

Der Druck macht viele Bauern skeptisch gegenüber dem Wandel. Auch beim Einsatz von Antibiotika. „Diese Medikamente spielen weiter eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass Tiere gesund bleiben“, erklären die Agrarökonomen Michael von Massow und Alfons Weersink von der Universität Guelph in Kanada. Angesichts der gegenwärtigen Halteformen in der konventionellen Landwirtschaft sei es kaum möglich, auf Antibiotika zu verzichten – man gefährde ansonsten das Tier­ wohl, es könne zum Ausbruch von Seuchen kommen. Tiere wür­den sich quälen oder unter Schmerzen sterben. Und: Landwirte wären einem immensen finanziellen Risiko ausgesetzt.

Trotzdem hatte Gwyn Jones bei seinem Vorstoß Grund zur Zu­versicht. Mehrere Verbände warben bei ihren Mitgliedern für ei­nen Verzicht auf Antibiotika, zum Beispiel der Verband der Ge­flügelzüchter. Der sammelte als erster genaue Daten über den Einsatz von Antibiotika, zuvor waren nur Zahlen zum Verkauf von Antibiotika erhoben worden. Die konkreten Daten aber ga­ben den Bauern nun ein Gefühl dafür, wie viele Antibiotika in der Branche tatsächlich eingesetzt werden und wo sie selbst im Vergleich zu den Kollegen stehen. Ein wichtiger Schritt, um den Wandel in Gang zu bringen.

Aber es fehlte eine industrieweite Initiative, die den Großteil der Fleischproduzenten des Landes repräsentierte. Sie zu grün­ den, das war Jones’ Ziel, auch um Regulierungen zuvorzukom­men. „Denn in diesem Fall sind Regulierungen schlecht. Sie berücksichtigen nicht das Wohlergehen der Tiere.“ Landwirte in Ländern, die strikte Grenzwerte vorschrieben, zögerten, ihrem kranken Vieh Medikamente zu geben, so Jones. „Mir war es wich­tig, dass das hier nicht auch passiert.“

Erste Fortschritte im Kampf gegen Antibiotika

Sein Poker ging auf: Bei der Ruma­ Konferenz im Oktober 2017 konnte der Vorstand verkünden, dass der Verbrauch von Antibio­tika auf 45 Milligramm pro Kilo Fleisch gefallen war – also unter den von der Regierung geforderten Grenzwert. Noch 2014 lag er bei über 65 Milligramm. In der Schweinezucht war es sogar gelungen, die Zahlen zu halbieren. „Aber wir hören nicht auf“, sagt Jones. Inzwischen gebe es im ganzen Land elektronische Sys­teme, die den Medikamentengebrauch bei Hühnern und Schwei­nen erfassen. Eine ähnliche Speicherung bei Rindern ist gerade gestartet worden. Und bei den Schafen will man nachziehen.

„Unser größter Erfolg ist, dass wir die Einstellung der Land­wirte verändert haben“, glaubt Jones. Wo es Widerstände gab, hat Ruma auch Druck ausgeübt, um die Ziele durchzusetzen. Spre­cherin Amy Jackson erklärt: „Was wichtig ist: Ruma ist keine Organisation, die auf Konsens basiert. Wir bemühen uns um Ein­gaben, aber wir treffen unabhängige Entscheidungen, wo diese notwendig sind.“

Ein Argument half Jones, seine Kollegen zu überzeugen: der Brexit. Er habe ihnen gesagt: „Ihr werdet ein Verkaufsargument brauchen, wenn Ihr Euer Produkt weiter verkaufen wollt.“ Viele Verbraucher legten in Großbritannien großen Wert darauf, briti­sches Fleisch zu kaufen, sagt Jones. Aber der Brexit könne nun da­ für sorgen, dass der Binnenmarkt mit billig produziertem Fleisch aus Argentinien oder den USA überschwemmt werde. Dann hät­ten er und seine Kollegen beim Preis keine Chance. „Wir müssen also durch andere Qualitäten herausstechen.“ Britisches Rind­fleisch könnte damit beworben werden, dass die Tiere mit Gras gefüttert werden, dass mehr Rücksicht auf ihr Wohlergehen als in den USA genommen werde, wo Rindern Wachstumshormone verabreicht werden. Und: Dass sie eben nur sehr wenig Antibio­tika bekommen haben.

Im europäischen Vergleich liegt Großbritannien damit im Mo­ment relativ weit vorne. Nur in einigen skandinavischen Ländern werden weniger Antibiotika verabreicht. Jones führt das darauf zurück, dass es dort weniger Intensivlandwirtschaft gebe als in Großbritannien. In Ost­ und vor allem Südeuropa geben Land­wirte und Tierärzte immer noch immens hohe Mengen an Antibiotika – in Spanien zum Beispiel kommt pro Tier geschätzt 100 Mal mehr zum Einsatz als in Norwegen.

Europäische Ansätze

Die EU­ Behörden bemühen sich, das Problem mit einem eu­ropaweiten Ansatz anzugehen. Die Herangehensweise ähnelt dem britischen Vorstoß. „Derzeit senden 30 europäische Staa­ten Daten zum Verkauf von antimikrobiellen Tierarzneimit­teln an die (…) Europäische Arzneimittel-Agentur, die diese Daten analysiert und jährliche Berichte herausgibt“, sagt Anca Paduraru, Sprecherin der EU­ Kommission für Gesundheit, Le­bensmittelsicherheit und Energieunion­ Projekte. Noch ist der Report freiwillig, in Zukunft würden die EU­ Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, nicht nur Verkaufsdaten von Antibiotika zu übermitteln, sondern auch genaue Daten zu ihrem Einsatz in der Tierlandwirtschaft. Paduraru: „Diese Regulierung soll Ende 2018 veröffentlicht werden und drei Jahre später zur Anwendung kommen.“

Coilin Nunan von der Aktionsgruppe „Alliance To Save Our Medicines“ bewertet die bisherigen Erfolge grundsätzlich po­sitiv. Ruma habe sich in den vergangenen Jahren stark gewan­delt. „Unterm Strich ist der Zusammenschluss eine Allianz aus Landwirtschafts-Organisationen und der Pharmaindustrie“, sagt Nunan. „Denen ging es lange überhaupt nicht darum, den Einsatz von Antibiotika zu verringern. Selbst heute lehnen sie Be­lege dafür ab, dass Antibiotika in der Landwirtschaft zu Resistenzen bei Menschen führen können.“ Aber letzten Endes habe man dort offenbar verstanden, dass kein Weg daran vorbei geht – und sonst Regulierungen drohen. Auch der Umstand, dass seit Jahren so gut wie keine neuen Antibiotika entdeckt worden seien, habe in der Agrarindustrie zu einem Umdenken geführt. Nach Nunans Einschätzung war der Druck der Politik entscheidend – vor allem durch David Cameron und den O’Neill ­Bericht.

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In den South Downs haben sich die Rinder von Gwyn Jones’ Tochter inzwischen auf das hohe Gras auf einer anderen Weide gestürzt und kauen laut schmatzend darauf herum. „Wir haben immer sehr wenig Antibiotika eingesetzt“, sagt Jones. Seine Toch­ter achte streng darauf, von welchen Höfen sie ihre Rinder kaufe – sprich: aus guter Haltung. „Das ist sehr wichtig“, sagt Jones: Wenn man gute Einrichtungen hat und gute Belüftung, dann hat man schon 90 Prozent erreicht.“ Außerdem müsse man da­ für sorgen, dass die Tiere genug zu fressen haben. Seine Erfah­rung ist: Gibt man Tieren, die krank aussehen, Schmerzmittel, fressen sie in aller Regel weiter. „Und dann gibt es eine gute Chance, dass sie mit den Erregern fertig werden. Erst wenn sie aufhören zu essen, kommen die Probleme.“

Er müsse los, sagt Jones, es gäbe viel zu tun. Das Heu für die Rinder wird gleich geliefert.

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