Tomatenretter im Einsatz
Wie viele Sorten kennt Ihr?
4 minuten
5 December 2018
Titelbild: Vince Lee/Unsplash
Auf dem Hamburger „Hof vorm Deich“ wachsen exotisch klingende Tomatensorten wie „Apricot Brandywine“, „Die Gelbe von der Krim“, „Magic Freak“ oder „Roughwood Golden Tiger“
4 minuten
5 December 2018
Die unteren Blätter abreißen, neue Triebe in den Blattachseln abbrechen, die schlingernde Spitze nach oben binden, das Seil, das an einer Stangenkonstruktion unter dem hohen Glasdach befestigt ist, straff ziehen. Insgesamt 2000 Mal, so viele Tomatenstauden wachsen hier, alphabetisch nach Sorten geordnet. Jetzt noch von P bis Z wie Zuckertraube. Hilmar hat das so sehr verinnerlicht, dass er an keiner Tomatenstaude vorbeigehen kann, ohne diese vier Arbeitsschritte abzuspulen. Seiner Jeans ist anzusehen, dass er damit schon häufiger im Dreck gekniet hat. Mit sachtem Druck von Daumen und Zeigefinger testet er den Reifegrad der Früchte. Oben sind sie noch klein, fest und grün, unten leuchten sie schon gelb, orange, rot und violett; einfarbig, gescheckt und marmoriert; kugelrund bis lang gezogen; murmelklein bis tennisballgroß. Nicht mehr lange, dann heißt es: ernten.
Rettungsinsel für Tomaten
Mit ungefähr 15 Gleichgesinnten ist Hilmar Tomatenretter. Der Wunsch nach schmackhaftem Gemüse sei es vor fünf Jahren gewesen, der ihn und seine Mitstreiter dazu gebracht habe, einen Verein zu gründen und den „Hof vorm Deich“ im Hamburger Südosten zur Rettungsinsel zu erklären. Auf ihm wachsen nun exotisch klingende Tomatensorten wie „Apricot Brandywine“, „Die Gelbe von der Krim“, „Magic Freak“ oder „Roughwood Golden Tiger“. Die Gose-Elbe fließt hier, ein Altwasserarm der Elbe, gerade breit genug für ein Paddelboot, durch plattes Land. Vom Deich aus, vor den drei großen Gewächshäusern, kann man die Kühe bis an den Horizont grasen sehen; die Reeperbahn, der Jungfernstieg – all das ist hier weit weg.
Während in den Supermärkten in der Hamburger Innenstadt perfekt aussehende Tomaten in Plastikschalen verkauft werden, lassen die Tomatenretter am Stadtrand die Vielfalt wieder aufleben – ohne Preisschilder, ohne Normen. Ihr Konzept: Gegen einen Förderpreis von fünf Euro im Monat kann jeder Pate einer Tomatensorte werden. Um Aufzucht und Pflege kümmert sich das Team: ehrenamtliche Helfer jeder Altersklasse wie die 23-jährige ausgebildete Gärtnerin Jule.
Im Sommer gibt es für alle 115 Paten drei Kilogramm Früchte, Zugriff auf das Saatgutarchiv haben sie jederzeit. Wenn man so will, betreiben die Tomatenretter Kundenbindung rückwärts, denn am liebsten wäre es ihnen, wenn ihre Paten im nächsten Jahr in ihren Gärten und auf ihren Balkonen selbst Stauden großzögen. Es geht ihnen um die Tomaten, nicht ums Geld. Wären da nicht die Werkzeuge und Maschinen, die sie für ihre Arbeit brauchen, würden sie auch auf die Förderbeiträge verzichten. Gerade musste das Team eine neue Fräse für fast 3000 Euro kaufen.
Und wenn die Tomatenretter einmal die Woche mit ihrem Stand an der Feldstraße auf dem Lattenplatz zwischen Musikclub und Plattenladen stehen, dann fragen alle, wo man die Tomaten denn nun kaufen könne. „Eine andere Sprache verstehen etliche Leute nicht“, sagt Hilmar. „Dabei wollen wir nur, dass sich der Bereich des Geschmacks für sie wieder öffnet.“ An ihrem Stand laden sie zum Probieren ein und verkaufen Kennenlernportionen, fünf Euro für ein halbes Kilo.
Enge Zulassungsregeln für neues Saatgut
Durch das immer gleiche Angebot der Supermärkte hat sich unser Geschmack zu einem schmalen Korridor verengt. Und das, obwohl Tomaten statistisch gesehen mit einem Pro-Kopf-Verzehr von rund 27 Kilogramm pro Jahr das beliebteste Gemüse der Deutschen sind (verarbeitete Früchte in Ketchup und Tomatenmark eingerechnet). Von den weltweit 15.000 Tomatensorten ist nur ein kleiner Teil für den Handel in Europa zugelassen.
Das Landwirtschaftsministerium begründet das so: „Innerhalb der Europäischen Union darf nur Saatgut zugelassener Pflanzensorten vermarktet werden. Eine Sorte wird zugelassen, wenn sie unterscheidbar, homogen und beständig ist, landeskulturellen Wert hat und ihr Name eintragbar ist.“ Die Zulassung kann ein Züchter national oder EU-weit beantragen, mit einem zusätzlichen Sortenschutz sichert er sich das Nutzungs und Verkaufsrecht seiner Sorte.
Schon die Zulassung ist aufwendig und teuer. Die Kriterien dafür erfüllen meist nur die hochgezüchteten Hybridsorten. Sie bringen zwar großen Ertrag, sind aber weder auf regionale Anforderungen spezialisiert noch „samenfest“ – aus ihren Samen kann man keine neue Pflanzen ziehen. Jeder Bauer, ob groß oder klein, muss daher jedes Jahr neues Saatgut kaufen. Das ist Kundenbindung vorwärts. Damit lässt sich viel Geld verdienen, vor allem seit die Patentämter in den Achtzigerjahren damit begannen, Patente auf gentechnisch veränderte Pflanzen zu erteilen.
Die Patentinhaber können entscheiden, wer ihr Produkt anbauen darf und wer nicht. Die meisten Patente auf Gen-Pflanzen in Europa hält BayerMonsanto. Der Megakonzern kontrolliert auch den Markt für konventionelles Saatgut. „Niemand hat sich so konsequent wie Monsanto Saatgutfirmen einverleibt. Das Unternehmen hat seit den 1990er-Jahren rund um den Globus eingekauft und beherrscht nun ein Viertel des weltweiten kommerziellen Saatgutmarktes“, heißt es im Konzernatlas 2017, einem Kooperationsprojekt von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen.
Drei Unternehmen beherrschen 60 Prozent des Marktes
Seit Monsanto sich 2018 für 63 Milliarden Euro vom deutschen Chemiegiganten Bayer kaufen ließ, seit im vergangenen Jahr DuPont und Dow Chemical fusionierten und ChemChina Syngenta schluckte, seitdem beherrschen nur noch drei Unternehmen mehr als sechzig Prozent des Marktes für kommerzielles Saatgut und die dazugehörigen Pestizide. Mit der Macht über den Anbau sichern sie sich die Macht über die Welternährung. Ihre Produktpaletten entscheiden rund um den Globus über einen Großteil der Ernten. Die Menschenrechtsorganisation FIAN fordert deshalb ein Menschenrecht auf Saatgut.
In den Gewächshäusern der Hamburger Tomatenretter wächst dagegen ein „nahrhafter und wohlschmeckender Protest“, wie Hilmar es ausdrückt. Er trägt T-Shirt und Kappe in unterschiedlichen Rottönen, als wollte er den Facettenreichtum der Tomaten fortsetzen. Der 68-Jährige ist pensionierter Lehrer und beinahe jeden Tag auf dem Hof. Es sind zu viele Tomaten und zu wenig Zeit. 148 Tomatensorten, dazu das Gemüse, das sie zur Eigenversorgung anbauen.
Offiziell verkaufen dürfen sie nur den Ertrag, nicht das Saatgut. Laut den sogenannten Erhaltungsrichtlinien dürfen alte Sorten zwar angebaut und vermarktet werden, aber nur in vorher definierten „Ursprungsregionen“. Auch die Erhaltungssorten müssen gegen eine Gebühr in eine Sortenliste aufgenommen werden – einmalig 200 Euro plus 30 Euro jährliche Schutzgebühr. Kleine Hobby Zusammenschlüsse können sich diese Registrierung oft nicht leisten. Der Marktanteil einer alten Zuchtsorte darf innerhalb einer Art nicht größer als 0,5 Prozent sein, alle Erhaltungssorten zusammen dürfen nicht mehr als zehn Prozent einer Art ausmachen. Damit will der Europäische Gerichtshof „die Bildung eines Parallelmarkts für dieses Saatgut verhindern, der den Binnen markt für Saatgut von Gemüsesorten zu behindern droht“. Das erspart den großen Konzernen Konkurrenz.
Lizenzen statt Patente
Der Widerstand gegen die konzernfreundliche Rechtsprechung ist groß. Die Hamburger Tomatenretter tauschen in einem engagierten Netzwerk Saatgut untereinander aus, helfen sich mit Materialien und Fachwissen. Einen besonders innovativen Ansatz verfolgt Open Source Seeds, eine Gruppe von Pflanzenzüchtern, Agrarwissenschaftlern, Juristen und Aktivisten.
Lizensiert ein Züchter sein Saatgut bei ihnen, wird es zum Allgemeingut, das heißt, jeder darf es anbauen, vermehren, züchterisch bearbeiten, verschenken, verkaufen. Nur: Niemand darf einen Patent oder Sortenschutz darauf anmelden. „Wir wollen ein Paralleluniversum zu dem Sektor, der geistige Eigentumsrechte nutzt, schaffen“, sagt Johannes Kotschi, der sich die Lizenz mit ausgedacht hat. Das fünfköpfige Team mit Sitz in Marburg hat mit Hilfe eines größeren Unterstützerkreises bislang sieben Sorten lizensiert, darunter drei Tomaten. Ein Anfang. Ihre erste Sorte war Sunviva, eine Cocktailtomate.
Klar, dass ihre goldgelben Früchte auch in einem der Gewächshäuser der Tomatenretter leuchten. Die ersten sind gerade reif, Hilmar pflückt sich eine von ihnen und kostet. Der Protest gegen die Übermacht der Großkonzerne schmeckt süß und saftig.