Grüne Verkehrspolitik zwischen Nachhaltigkeit und Kulturkampf

Mehr Grün wagen

Lesezeit:
25 minuten

20 August 2019

TITELBILD: ADRIAN / UNSPLASH

Die Wende zur Nachhaltigkeit in der Mobilität ist für Zukunftsforscher und Mobilitätsexperte Stephan Rammler unumgänglich. Und auch machbar. Scheitern kann die Zukunft unserer ökologischen Raumüberwindungsstrategien einzig daran, dass die Politik nicht die richtigen Rahmenbedingungen schafft

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20 August 2019

Wir leben in bewegten Zeiten. Wir bewegen uns räumlich mehr als jemals zuvor und zeitlich so schnell wie noch nie. Ein kurzer Blick in die Verkehrsgeschichte zeigt bereits für die vormodern-organischen Zeiten massive Eingriffe in natürliche Lebensräume zum Zwecke der Ermöglichung immer besserer und schnellerer Raumüberwindung und Raumbeherrschung. Angefangen bei der Domestizierung großer Reit- und Zugtiere und der damit verbundenen Umwandlung von ursprünglichen Naturräumen in Gras- und Weidelandschaften über den antiken Straßenbau bis hin zu den riesigen Flotten von aus Holz gebauten Schiffen der alten Chinesen, der antiken Seefahrervölker des Mittelmeerraumes und der Kriegs- und Handelsmarinen der frühen Neuzeit, die in der Entwaldung und dauerhaften ökologischen Veränderung von Landflächen und einen Umbau natürlicher Küstenlinien in Hafeninfrastrukturen mündete – immer schon führte der Wunsch nach Erleichterung und Beschleunigung der Raumüberwindung zu »Zurichtungen«, je nach Lesart auch zu »Zerstörungen« bei der Umwandlung ursprünglicher Naturräume in mobilisierte Kulturräume.

Mit Eintritt in die fossil-mechanische Epoche spitzt sich dieses prinzipiell problematische Naturverhältnis der Raumüberwindung nur noch weiter zu. Es kommt zu einer neuen, globalen Dimension der Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme vor allem durch die Emissionen von im Brennstoff gespeichertem CO2 und weiteren sogenannten Luftschadstoffen. Doch nicht nur die Antriebe der Verkehrsmittel, auch die für ihren Betrieb notwendigen Infrastrukturen hinterlassen ihre Spuren. Häfen, Straßen, Parkplätze, Schienen, Bahnhöfe, schließlich Flughäfen und Raumbahnhöfe markieren den immer materialintensiver werdenden und deswegen mit immer größeren ökologischen Rucksäcken belasteten Weg in die Technisierung der Mobilität. Die großtechnischen Systeme der verschiedensten Verkehrsinfrastrukturen verbinden sich heute zu einem globalen Metasystem der Mobilität und sind sichtbarster Ausdruck des Umbaus der Welt zur Beschleunigungsarena, die mit ihren Licht­spu­ren stets und ständig das Gewebe unserer mobilen Zivilisation in den Nachthimmel schreibt.

Es scheint also, als könne die globale Moderne nur mit einem Höchstmaß an Beschleunigung und Mobilisierung funktionieren. Es scheint, als wären Mobilität und Modernisierung wahlverwandt, zwei Seiten einer Medaille, nur zusammen ganz, funktional und stabil. Zugleich wachsen die ökologischen und sozialen Kosten dieser – je nach Sichtweise – (un­)heiligen Allianz so stetig und intellektuell unabweisbar ins Unermessliche, dass nur Ignoranz oder bewusste Verleumdung und Bigotterie dieser Einsicht standhalten können.

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Vor diesem allgemeinen Hintergrund zeigt sich Anfang 2019 in der verkehrspolitischen Diskurslage in der Bundesrepublik ein verworrenes, widersprüchliches und vielschichtiges Bild. Dieselskandal, CO2-Emissionen, Elektromobilität, Fahrverbote und Tempolimits auf Autobahnen kumulieren sich in der jüngsten Einschätzung eines großen Nachrichtenmagazins sogar zur These eines »automobilen Kulturkampfes«. Die Einzelthemen sind dabei sehr unterschiedlich, vereint sind sie aber in ihrer Anzeigefunktion als Senkbleie in die Tiefen einer seit Jahrzehnten ganz grundsätzlich vermurksten Debatte. Die Einschätzung des Kulturkampfes ist nicht unplausibel. In kaum einem anderen Politikfeld werden wie in diesem die mit der modernen fossilen Mobilität verbundenen Wohlstands- und Freiheitsversprechen regelmäßig zu machtpolitischen Vehikeln in den Arenen parteipolitischer Zukunftssicherung. Wenn Verkehrsminister Andreas Scheuer davon spricht, ein Tempolimit stünde gegen jede Form des gesunden Menschenverstandes, dann schielt er gleichermaßen auf die strukturkonservativen Wähler im ländlichen Niederbayern wie auf die Industriearbeiter als auch die Manager bei BMW und Audi. Scheuer kann bislang als einer der schlechtesten Verkehrsminister in der Geschichte der Bundesrepublik gelten. Und das will etwas heißen angesichts einer knapp eine Dekade andauernden »Ingeiselhaftnahme« der deutschen Verkehrs- und Infrastrukturpolitik durch bayrische Sonderinteressen. Scheuer agiert offenkundig in Ermangelung klügerer Konzepte in fast idealtypischer Reinform als Lordsiegelbewahrer einer autogerechten Verkehrspolitik, als Traditionalist und tagesaktuell inspirierter Cheflobbyist der Automobilindustrie, während er die echten strategischen Zukunftsfragen der Mobilitätspolitik systematisch vernachlässigt. Er hat offenbar nicht erkannt, dass es die Synergien mächtiger Trends in globalen Entwicklungsprozessen sind – gegen die selbst ein bayrischer Verkehrsminister nicht ankommen kann –, die zu einer rasanten Transformation der Verkehrsmärkte beitragen: Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, wachsende Mobilitätsnachfrage und ansteigende Verkehrsmengen mit zeitgleich anwachsenden externen Effekten für Menschen und ökologische Systeme erzwingen schon heute Politikwechsel in den wichtigsten Zukunftsmärkten der deutschen Automobilindustrie.

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Für die Zukunft würde das Autoland Deutschland in Wirklichkeit nur dann fit werden, wenn es sich selbst radikal verändert in Richtung mehr nachhaltiger Stadt- und Verkehrsentwicklung, den Umbau der deutschen Industrie in Richtung elektrischer Antriebe und digitaler Mobilitätsdienstleistungen massiv beschleunigt und vor allem die öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen auch in strukturschwachen Regionen ausbaut und modernisiert. Dazu bräuchte es eine konzeptfähige, kritikfähige, intellektuell differenzierte und mutige Verkehrspolitik und eine politisch-kulturelle Verständigung auf ein Primat der Politik, das anzeigen würde, dass die Politik sich selbst wieder ernst nimmt als legitime Gestaltungsinstanz statt als Sachverwalter des Status quo. Zugleich gälte es, die Notwendigkeit, weil Unausweichlichkeit dieser Transformations­politik zu erläutern, zu plausibilisieren und in ihren zwangsläufigen beschäftigungspolitischen und sozialen Folgewirkungen abzufedern.

Das sind mittlerweile Binsenwahrheiten kluger Mobilitätspolitik in vielen Teilen der Welt. Im Gegensatz dazu aber nimmt die deutsche Verkehrspolitik Zuflucht zur Vergangenheit, adressiert oft genug niedere Instinkte und schlägt sich sehr vermeintlich auf die Seite des Bürgers, indem sie die durch schlechte Infrastrukturpolitik und vernachlässigte Daseinsvorsorge jahrzehntelang erzwungene Automobilität in ländlichen Regionen nach wie vor als Freiheitsversprechen verkauft. Ebenso kurzsichtig agieren die Gewerkschaften und die von ihnen getriebene Sozialdemokratie. Beide entdecken ihr Herz für den Automobilarbeiter immer dann, wenn die böse Elektromobilität »Hunderttausende Arbeitsplätze zu vernichten droht«, nicht aber, wenn die Autoindustrie systematisch mit beschäftigungsvernichtender digitaler Produktionsoptimierung die Gewinne erhöht oder Standorte in die Nähe der überseeischen Märkte verlagert, ebenfalls aus Gründen der Kosteneinsparungen durch kürzere und sicherere Transportwege und günstige Arbeiter.

Was ist also los im Autoland Deutschland?

Man kann sich angesichts der »Verfahrenheit« dieser Debatte mit guten Gründen die Frage stellen, ob Mobilität und Nachhaltigkeit womöglich prinzipiell unvereinbar sind beziehungsweise einen so mutigen und konsequenten politischen Steuerungsimpuls benötigen, wie er vor dem Hintergrund einer über 100­jährigen Automobilisierungsgeschichte und ihren diversen ökonomischen, sozialen und kulturellen Pfadabhängigkeiten in einer demokratischen Kultur unseres Zuschnitts kaum möglich erscheint. Nun ist die verkehrspolitische Debatte dieses Sommers nicht die einzige interessante politische Entwicklung. Wir erleben zeitgleich ein zumindest rhetorisches »Ergrünen« der Politik. Mit Blick auf die aktuellen Wählerstimmenprognosen in den wöchentlichen Sonntagsfragen scheint es, als könnten es die Grünen sein, denen in der näheren Zukunft die Aufgabe in den Schoß fällt, »mehr Grün« in der Verkehrspolitik zu wagen, ja wagen zu müssen, um auch den Wirtschaftsstandort Deutschland mittel- und langfristig zukunftsfest zu machen.

Woran könnten sie sich dabei orientieren? Wo bliebe dabei die Nachhaltigkeit? Und wie soll angesichts der beschriebenen engen Symbiose von gesellschaftlicher Modernisierung und wachsenden Verkehrsleistungen eine transformative mobilitätspolitische Nachhaltigkeitsperspektive in Zukunft überhaupt möglich sein? Um sich einer Antwort anzunähern, wird zunächst die Begriffs- und Realgeschichte von Nachhaltigkeit und Mobilität bis zum heutigen Zeitpunkt nachgezeichnet. Danach werden die beiden Konzepte im Hinblick auf nötige und hinreichende Zielhorizonte, Bewertungskriterien und Handlungsstrategien miteinander verknüpft. Der Beitrag endet mit einer optimistischen Antwort auf die eingangs formulierte Frage nach der prinzipiellen Vereinbarkeit von Raumüberwindung und Nachhaltigkeit. Vor allem dem wohl in vielerlei Hinsicht grundstürzenden Prozess der Digitalisierung der Mobilität werden dabei große Potenziale zugeschrieben, was in der abschließenden These von der Möglichkeit einer »digitalen Schubumkehr« der mo­dernen Mobilität mündet.

Begriffs- und Realgeschichte der nachhaltigen Mobilität

Gesellschaftliche und wissenschaftliche Begriffsverwendungen ändern sich mit der gesellschaftlichen Praxis. Insofern sind die im Folgenden nachgezeichneten Real- und Begriffsgeschichten der Konzepte von Nachhaltigkeit und Mobilität nicht voneinander zu trennen. Gleiches gilt für die zunehmende Verschränkung der beiden Begriffe und die Konvergenz und Überlagerung der jeweiligen fachwissenschaftlichen wie öffentlichen Diskussionen. Die realgeschichtlichen Entwicklungen drängten zu einem neuen und erweiterten Begriffsapparat, in dem sich nun auch die Anerkennung der normativen Verantwortlichkeit des Menschen für seine zukünftige Entwicklung in der Epoche des »Anthropozän« gleichermaßen zum Ausdruck und zum Diskurs bringen konnte.1

Vom Umweltschutz zur Nachhaltigkeit

Die Geschichte der ökologischen Bewegung ist so facettenreich, komplex und oft in sich widersprüchlich, dass es selbst einem Meister seines Fachs wie dem Sozialhistoriker Joachim Radkau nur mit großem Aufwand gelingt, den enormen Stoff zu bewältigen.2 Für die Zwecke dieses Beitrags ist die angesichts der Fülle sehr pointierte Darstellung von zwei real- und begriffsgeschichtlichen Wendepunkten in der »Weltgeschichte« der Ökologie von Interesse, die er um die 1970er- und die 1990er-Jahre herum ausmacht.

Das erste Zeitfenster bezeichnet Radkau als die Jahre der »ökologischen Revolution«3, in der es in einer Art »Kettenreaktion« unter dem Begriff des Umweltschutzes zur Verknüpfung unterschiedlichster Themenfelder, Aktivitäten und Politikarenen kommt, wie dem Naturschutz, dem Tier-, Wald- und Wasserschutz, der Luftreinhaltung und dem Arbeits- und Verbraucherschutz.4 Markantestes Kennzeichen des neuen ökologischen Denkens ist die Ganzheitlichkeit, Vernetzung und Systemorientierung im Denken wie im Handeln, etwa nach dem Motto des »Ersten Gesetzes der Ökologie: Everything is Connected to Everything Else« des zu dieser Zeit vor allem in den USA intellektuell sehr einflussreichen Barry Commoner.5 Auch die mit Raumfahrt und Mondlandung verbundene neue Perspektive auf die prinzipielle Begrenztheit und systemische Geschlossenheit des blauen Planeten, die von Paul R. Ehrlichs The Population Bomb ausgelöste Debatte um die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung und schließlich die Studie Grenzen des Wachstums des Club of Rome haben in dieser Zeit ihren Beitrag zur Zuspitzung von Begriff und Bewegung geleistet. Trotz der Ausweitung der globalen Perspektive blieb die neue Umweltbewegung – mit Ausnahme von Japan – ein noch weitgehend westliches Ereignis.

Den zweiten Wendepunkt bezeichnet Radkau zwar nicht mehr als Revolution, aber immerhin als eine »Zeitenwende« um 1990 herum.6 Deren Charakteristikum war die Verknüpfung der Umweltproblematik mit der Frage der inner- wie intergenerationalen Gerechtigkeit, mithin dem internationalen entwicklungspolitischen Diskurs. Am Ende dieses er­neu­ten Paradigmenwechsels stand der mit neuem Leben erfüllte Nachhaltigkeitsbegriff als Ausgangspunkt der bis heute nicht abreißenden Diskussion der Chancen einer Integration und Koevolution ökologischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungsmöglichkeiten. Bereits im 17. Jahrhundert hatte Hans Carl von Carlowitz die Nachhaltigkeit mit Blick auf einen schonenden und auf dauerhafte Nutzung angelegten Umgang mit der damals industriell enorm wichtigen Ressource Holz geprägt.7

Mit dem Bericht der Brundtland-Kommission für Umwelt und Entwicklung war der Begriff 1987 plötzlich wieder in der Welt, jetzt in seiner erweiterten Ausprägung als sustainable development, definiert als »development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs«.8 Die globale »Erfolgsgeschichte« des Begriffs beginnt allerdings erst mit der Klimakonferenz in Rio im Jahr 1992. Obwohl das Konzept der nachhaltigen Entwicklung ungleich mehr Ziele definiert als den Schutz der Erdatmosphäre vor den Folgen des ungebremsten Verbrauchs fossiler Energieträger, ist es seitdem eng mit der Klimadebatte und dem Treibhauseffekt als einer Art Leitindikator des Nachhaltigkeitsdiskurses ver­knüpft.

Vom Verkehr zur Mobilität

Eine Schwerpunktsetzung bei den Umweltfolgen des Verkehrs beziehungsweise der umweltorientierten Verkehrspolitik war von Beginn an ein wichtiger »Nerv« der Umweltpolitik.9 An ihr zeigte sich besonders deutlich das trotz der zunehmenden Internationalisierung des Umweltthemas weiter fortbestehende, je unterschiedliche nationale Gepräge politischer Strategien, die nicht zuletzt von den verschiedenen geografischen Gegebenheiten mitbestimmt werden. Eine Determinante sei die Geografie allerdings nicht.10 Vor allem der Einfluss ökonomischer Interessen spielt eine viel größere Rolle. Gerade in Deutschland erwies sich immer wieder der besondere Einfluss der Automobil- und Mineralölindustrie. Waren die externen Kosten des Verkehrs in der Bundesrepublik bis in die 1960er-Jahre hinein vor allem in ihrer Ausprägung als Unfallfolgen ein zentrales Thema der Verkehrssicherheitspolitik,11 so begann sich das parallel zur sogenannten »ökologischen Revolution« und erst recht im Zuge der weiteren rasanten Massenmotorisierung zu ändern. Hans Dollingers Kampfschrift gegen das Automobil, Die totale Autogesellschaft,12 setzte in dieser Debatte eine erste prominente Marke der öffentlichen Debatte, die auch vom Spiegel aufgegriffen wurde. Zeitgleich beginnt sich im Kontext der klassischen verkehrswissenschaftlichen Disziplinen ein kritisches Interesse an den Ursachen der Probleme und an möglichen Auswegen aus dem damals als weithin alternativlos angesehenen Verkehrswachstum zu entwickeln. Diese Initiative ging von einer jüngeren Generation von Verkehrswissenschaftlern aus,13 auch von Sozialwissenschaftlern,14 die in dieser Zeit versuchten, sozialwissenschaftlichen Sachverstand sowohl zu Zwecken der Analyse wie auch der Deskription in die Verkehrsforschung einzubringen und damit den kritischen Erneuerungsprozess zu unterstützen.

Trotz des wachsenden Engagements verschiedener automobilkritischer Gruppen entwickelte sich in Deutschland in den 1970er-Jahren jedoch keine in ihren Ambitionen mit Amerika oder Japan vergleichbare Regulierungspolitik der Automobilität, sodass man bei der Einführung des Katalysators fast ein Jahrzehnt zurücklag. Auch zu einer vergleichsweise konsequenten Luftreinhaltungspolitik wie in Kalifornien und zu Verbrauchsregulierungen wie in den gesamten USA konnte man sich erst spät beziehungsweise erst im europäischen Kontext durchringen, zu ei­nem Tempolimit gar nicht. Insofern hat die deutsche Automobilindustrie bis heute mit einem strukturell zu nennenden Legitimationsproblem zu kämpfen, das Anfang der 1990er-Jahre auf einen ersten Höhepunkt zulief. Die Debatte um die externen Effekte des Verkehrs bestimmte zu dieser Zeit quasi paradigmatisch die gesamte Umweltdebatte, was auch darin zum Ausdruck kam, dass Bündnis 90/Die Grünen in diesem Feld nach eigenem Bekunden ihren zu dieser Zeit größten Sachverstand entwickelten.15 Unter dem umweltpolitischen Signum des beginnenden Nachhaltigkeitsdiskurses und geprägt von der interdisziplinären Neuorientierung hin zur Humanökologie 16 vollzog sich in Deutschland damals ein spürbarer qualitativer wie quantitativer Wachstums-, Ausdifferenzierungs- und Etablierungsprozess der sozialwissenschaftlichen Verkehrsforschung, die bis dahin eher den Charakter einer unterstützenden Bezugswissenschaft der klassischen Verkehrswissenschaften ge­habt hatte. Hinsichtlich bislang vernachlässigter Zielgruppen und Methoden kam es zu einem klar erkennbaren Entwicklungsschub, der bis heute anhält. Diese Situation verband sich mit der 1992 in Rio auf ihren ersten Höhepunkt zustrebenden Klimadebatte, bei der der Verkehr als eines der wichtigsten Bedürfnisfelder eine zentrale Rolle spielt. In diesem Zusammenhang vereinten sich nun erneut, diesmal allerdings dauerhafter, Teile von Verkehrswissenschaften und Sozialwissenschaften zu einem kritischen Bündnis, für das insbesondere das neu gegründete Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (WI), das Öko-Institut, das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW), später das Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) und schließlich das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die institutionellen Kontexte boten und bis heute bieten.

Wurde bis in die 1970er-Jahre hinein in den Verkehrswissenschaften überwiegend vom Verkehr gesprochen – »als Bezeichnung für die Gesamtheit aller Vorgänge, die der Raumüberwindung dienen, also nicht nur die Raumüberwindung materieller Dinge« 17 – und blieb der Mobilitätsbegriff weitgehend den Sozialwissenschaften vorbehalten, so kam es vergleichbar zur Umwelt- beziehungsweise Nachhaltigkeitsdebatte auch hier zu einer Neuausrichtung der zentralen Begrifflichkeiten, mithin zur Entwicklung von zwei verschiedenen Diskurssträngen, die sich bis zum heutigen Tag erhalten haben.

Der erste Strang, den man auch als einen strategisch-legitimatorischen bezeichnen könnte, führte seit Beginn der 1970er-Jahre zu einer begrifflichen Engführung beziehungsweise zunehmenden Gleichsetzung von Verkehr und Mobilität in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion. Im öffentlich-politischen Bereich und Teilen der Verkehrswissenschaften, vor allem aber von den Unternehmen der Mobilitätsbranche wurden Mobilität und Verkehr zunehmend synonym verwendet mit einer wachsenden Tendenz zur vollständigen Übernahme des Mobilitätsbegriffs und einer Verdrängung des Verkehrsbegriffs. Mobilität wurde zur tatsächlichen Bewegung im Raum, was vormals allein als Verkehr bezeichnet wurde. Die ursprüngliche Bedeutung als Möglichkeitskategorie, als Potenzial zur Bewegung, ging damit verloren. Durch die semantische Hintertür führte dies bei manchen Akteuren dazu, dass Mobilität und Automobilität schlechthin identisch wurden. Über die Gründe dieser Begriffsveränderung lässt sich spekulieren. Womöglich kamen darin neben den apologetischen Zwecken von Autoindustrie und weiteren Einflussgruppen (zum Beispiel ADAC), welche einen Bedarf an einem neuen und unverbrauchten, evolutionsbiologisch positiv besetzten und die Ausweitung von Möglichkeiten insinuierenden Begriff hatten, auch die Interessen der Forschung zum Tragen, sich durch einen modernen Begriffsapparat in einem zunehmend von der Konkurrenz um Drittmittel geprägten Forschungsbereich verbesserte Chancen zu verschaffen.

Auch in der sprachlichen Alltagspraxis lässt sich bis heute kaum eine negative Konnotation von Mobilität nachzeichnen. So ist es beispiels­weise nicht üblich, von Mobilitätsstau oder von Mobilitätsunfällen zu sprechen. Es scheint, als blieben die negativen Assoziationen dem Begriff des Verkehrs vorbehalten, um mit dem Begriff der Mobili­tät die lich­ten Seiten ein und desselben Phänomens umso unbeeindruckter thematisieren zu können.

Doch auch das starke Unbehagen über diese Gleichsetzung lässt sich seit den 1970er-Jahren verfolgen. Als einer der Protagonisten eines zweiten, kritischen Diskursstrangs monierte Eckhardt Kutter bereits Mitte der 1970er-Jahre die wachsende Selbstverständlichkeit, den Begriff der Mobilität als motorisiertes Fahrtenaufkommen zu definieren.18 Darin kam nicht nur eine eklatante analytische und planerische Missachtung des Fußgänger- und Radverkehrs zum Ausdruck, sondern es ergab sich auch das Problem, dass mit steigender Motorisierung vordergründig auch die Mobilität stieg, obwohl in steigendem Maße Wege substituiert wurden, die zuvor nicht motorisiert abgewickelt wurden. Kutter schlug demgegenüber vor, Mobilität als Gesamtzahl aller Ortsveränderungen zu definieren. Auch Manfred Wermuth definierte »individuelle Mobilität« als die individuelle Häufigkeit der Aktivitäten, die außerhalb der eigenen Wohnung stattfinden.19

Beide Definitionen legen die Betonung auf die verfolgten Aktivitäten, sprich Zwecke der Ortsveränderungen, statt auf die reine Distanzüberwindung. So wurde es nun thematisierbar, wie gut die Orte erreichbar sind, an denen eine gewünschte Aktivi­tät vollzogen werden soll, sei es ein Gespräch, ein Einkauf oder Lohnarbeit zum Lebensunterhalt. Kutter ging so weit, Mobilität als »Erreichbarkeit von Einrichtungen« zu definieren. und setzte damit vollends auf die Qualität eines gewünschten Aktivitätenzugangs: »Eine totale Mobilität ist dann gekennzeichnet durch das Fehlen jeder Entfernungsempfindlichkeit, welches gleichbedeutend ist mit der Möglichkeit, bei Bedarf uneingeschränkt Einrichtungen zu erreichen.« 20 Damit war es nun möglich, auch die Struktur- und Raumordnungspolitik, also die Art und Weise der planerischen Anordnung und Verknüpfung von Infrastrukturen, Siedlungen und Wirt­schafts­standorten zu- und untereinander als zentralen Bestandteil einer verkehrspolitischen Strategie zu qualifizieren, die man bald als »integrierte Verkehrspolitik« bezeichnete.21 Nun stand nicht mehr allein die technologische Qualität und Effizienz der die Standorte verbindenden Verkehrsträger oder die anteilige Verteilung ihrer Nutzungshäufigkeit im Mittelpunkt.

Vielmehr konnte die politische Steuerung der räumlichen Interdependenzverhältnisse als zentraler Schlüssel zur Frage der Verkehrsgenese oder eben der Verkehrsvermeidung betrachtet werden, was zunächst noch in erster Linie hinsichtlich der sozialen Dimensionen thematisiert wurde: »Die Dezentralisation der Wohnstandorte und Arbeitsstätten verschlechtert die Erreichbarkeit von Einrichtungen und hat in der Regel eine Substitution von Fußwegen durch Fahrten mit einem Verkehrsmittel zur Folge.« 22 Diese Kritik einer »erzwungenen Mobilität« 23 kann als historisch erster Kristallisationspunkt der »kritischen Verkehrsforschung« interpretiert werden. Der kritische Impetus speiste sich unter dem Ein­druck der sozialdemokratischen Reformbewegung damals aus dem so­zialpolitischen Interesse, die Zugänglichkeit zu Einrichtungen für alle Bevölkerungsgruppen als wichtige raumpolitische Determinante von Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern. Allerdings schob sich alsbald die Sorge um die Umweltqualität in den Vordergrund. Und spätestens in den nunmehr von der Klimafrage dominierten verkehrsökologischen Debatten der 1990er-Jahre hinsichtlich der Optionen einer am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierten Verkehrspolitik wurde die alte Frage der Steuerbarkeit räumlicher Interdependenzverhältnisse als Strategie der klimaentlastenden Verkehrsvermeidung unter anderem unter den programmatischen Stichworten der »Stärkung des Nahraums«, der »Entschleunigung« und »Erhöhung des Raumwiderstandes« erneut diskutiert.24

Zwischenfazit: Vom umweltfreundlichen Verkehr zur nachhaltigen Mobilität

Es zeigte sich, wie die beiden Begriffe Nachhaltigkeit und Mobilität jeweils die älteren Begriffe und Konzepte des Natur- beziehungsweise Umweltschutzes und des Verkehrs ab einem bestimmten Zeitpunkt der realgesellschaftlichen Entwicklung eingeschlossen und transzendiert haben. Die Gründe für diese begriffsgeschichtlichen Sprünge sind in der quantitativen Zuspitzung (wachsendes Ausmaß der Umwelteffekte beziehungsweise Mengenwachstum des Verkehrs) und der qualitativen Veränderung (Globalisierung, Komplexitätssteigerung) der bezeichneten Sachverhalte zu suchen. Von den 1970er- bis in die 1990er-Jahre hat sich im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Diskurs das Verständnis für den vielschichtigen und vielfältig verflochtenen systemischen Charakter der globalen Umwelt- wie Verkehrsentwicklung durchgesetzt. Genauso wenig wie man ab einem bestimmten Entwicklungspunkt der analytischen Durchdringung die Verkehrsentwicklung weiterhin auf die schlichte Resultante ökonomischer Entwicklung reduzieren, sondern sie nur im größeren Zusammenhang der gesamtkulturellen Modernisierungsleistung eines sich stetig erweiternden und in sich ausdifferenzierenden Möglichkeitsraumes sozialer Teilhabe hinreichend verstehen konnte, war es ab einem bestimmten Punkt ökosystemischer Veränderungen und ihren vertieften Verständnismöglichkeiten mithilfe der Systemwissenschaften und der zunehmend rechnergestützten Modellierung von komplexen Abläufen möglich, den Sachverhalt sich weltweit zuspit­zender Umweltkrisen weiterhin auf ein mehr oder minder technolo­gisch lösbares »End-of-the-Pipe-Problem« zu reduzieren. Wo also bei­spiels­weise die Automobilnutzung wegen ihrer Ressourcenintensität und ihren Klimaemissionen auf einmal zu einer globalen Angelegenheit wird, reicht der Katalysator eben nicht mehr aus, um die Probleme zu lösen, sondern die Automobilität als massenkulturelles Phänomen steht in Gänze zur Diskussion.

Anders gesagt: Wer von Nachhaltigkeit als von einer im Sinne globaler Gerechtigkeit verantwortlichen und in die Zukunft gerichteten Gestaltungsaufgabe spricht, bei der es um die Verteilung knapper Ressourcen, um Anspruchsniveaus und Lebenschancen im globalen und in­tergenerationalen Wirkungszusammenhang geht, kann auch im Hinblick auf nachhaltige Gestaltungsmöglichkeiten im Feld der Raumüberwindung nicht mehr den unterkomplexen Begriff des Verkehrs benutzen. Er benötigt eine neue Kategorie, welche die dem eigentlichen technischen Transportprozess vor- und nachgelagerten subjektiven Entscheidungen, Lebensstile, Bedürfnisniveaus und pla­neri­schen Strategien thematisierbar macht und womöglich in den Vordergrund der Debatte schiebt, eben den Begriff der »nachhaltigen Mobilität«.

Nachhaltige Mobilität – Ziele, Konzepte und Handlungsstrategien

Vor diesem Hintergrund lässt sich »nachhaltige Mobilität« definieren als die ökologisch verträgliche und sozial gerechte Gestaltung und Gewährleistung der Erreichbarkeit von Einrichtungen und Kommunikationszugängen in einer globalen Gesellschaft. Das staatliche ordnungs- und fiskalpolitische Instrumentarium stellt dabei einen breit und differenziert nutzbaren Baukasten von Handlungsansätzen zur Verfügung, der auf den unterschiedlichen politischen Regulierungsebenen von der Kommune bis zur EU in unterschiedlichen Kombinationen zur Beförderung angebotsseitiger Innovationen und nachfrageseitiger Verhal­tensänderungen anwendbar ist. Für eine nachhaltige Mobilität müssen die Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzstrategie – die drei Grundkonzepte zur Gestaltung von Nachhaltigkeit – in einem gleichberechtigten und ausgewogenen Verhältnis ineinandergreifen,25 wobei mithilfe stetiger Produkt-, Nutzungs- und Systeminnovationen der Verkehrsträger einerseits, mit den Planungsinstrumenten einer integrierten Siedlungs- und Standortpolitik andererseits, die Prozesse der Entstehung von Raumüberwindungsbedarf wie dessen tatsächliche Abwicklung in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht beständig optimiert werden können. Wird nur die Effizienzstrategie eingesetzt, kommt es nach anfänglichen Entlastungen mittel- und langfristig zu Effekten der Überkompensation von ökologisch sinnvollen Einsparungen.

Das Problem der »Rebound-Effekte« in der Mobilität

Wohl selten war die Ratlosigkeit von Verkehrsexperten selbst für fachfremde Beobachter greifbarer als während der Weltverkehrsforen der vergangenen Jahre. Angesichts der zentralen, vielfach wiederholten Botschaft des »World Transport Outlook« des International Transport Forum der OECD, das Verkehrsaufkommen werde sich bis zum Jahr 2050 weltweit verdreifachen, war und ist guter Rat teuer. Während in allen anderen Sektoren Effizienzsteigerungen, Verbrauchssenkungen und die Verringerung von Umwelteffekten mehr oder minder erfolgreich umgesetzt werden, wachsen die externen Effekte der globalen Mobilitätsmaschinerie offenkundig immer schneller. Eine einheitliche Antwort auf die Frage, wie unter diesen Umständen die Mobilitätsanforderungen von demnächst neun bis zwölf Milliarden Menschen auf wirklich nachhaltige Weise zu gewährleisten wären, blieben die Experten schuldig. Einig war man sich allein darin, dass bei einer ungesteuerten Entwicklung die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen und dementsprechend die Emissionen von Klimagasen, Luftschadstoffen und Feinstäuben, die Lärmemissionen, die Unfallkosten und vor allem der Material- und Raumbedarf der Mobilität sprunghaft ansteigen werden.

Angesichts dieser enormen Dynamik des Verkehrswachstums stellt die Anforderung der Nachhaltigkeit die immer noch dominierende Grundannahme der aktuellen Verkehrspolitik und der verkehrsbezoge­nen Innovationspolitik infrage, es ließe sich innerhalb des geltenden Entwicklungspfades ökologischer Modernisierung allein mithilfe effizienzorientierter technischer Innovationen etwas substanziell ändern. Alle Optimierungs- und Lenkungs-, Verflüssigungs- und Verlagerungskonzepte für den Verkehr – so sinnvoll und wichtig sie im Einzelnen auch sein mögen – beheben den Umstand nicht, dass wir auf dem falschen Pfad sind, solange wir uns innerhalb des geltenden Mobilitätsmodells bewegen, da die durch Effizienzsteigerung erreichten Verbesserungen und Einsparungen bei ungebremstem weiteren Nachfragewachstum durch den sogenannten »Rebound-Effekt« sofort wieder überkompensiert werden. Nachhaltige Mobilität wird deswegen zukünftig auch auf der bestmöglichen Vermeidung von Raumüberwindung basieren müssen, was im Kern die Frage nach unseren Lebensstilen und Bedürfnisniveaus und damit letztlich nach unserem Wohlstandskonzept und Freiheitsbegriff betrifft. Welche große Bedeutung die Forderung einer integrierten, also auf alle drei Strategien zurückgreifenden Nachhaltigkeitspolitik in der Mobilität hat, lässt sich gut an der aktuellen Debatte um die Elektromobilität aufzeigen.

Mehr als das Elektroauto – wie Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzstrategie für eine nachhaltige Elektromobilität ineinandergreifen müssen

Die die Nachhaltigkeitspolitik dominierende Effizienzstrategie verfolgt das Ziel einer Entkopplung von Bedürfnisbefriedigung und Ressourcenaufwand durch technologische und organisatorische Optimierung von Produkten und Prozessabläufen. Beispiele hierfür sind in der Mobilität etwa die Optimierung von Motoren, Gewichtsreduktionen oder die telematische Verkehrsflussoptimierung. Die Konsistenzstrategie zielt vor allem auf einen klugen und effektiven Umgang mit Materialres­sour­cen zur Verringerung der ökologischen Rucksäcke von Produkten und Infrastrukturen. Neue Materialtechnologien, Gestaltungsphilosophien und Produktionsweisen können zusammengreifen, um einmal verwendete Rohstoffe im maximalen Ausmaß nach dem Ablauf eines Produktlebenszyklus wieder in einen neuen Produktlebenszyklus zu über­­führen. Auch kollaborative Nutzungsphilosophien können den Materialaufwand pro Serviceeinheit minimieren. Die Suffizienzstrategie zielt schließlich auf die Lebensstile, Konsumwünsche und Verhaltensweisen von Verbrauchern, wie das Verkehrsmittelwahlverhalten oder die Auswahl der Verkehrsziele, zum Beispiel bei Reisen. Entscheidungen für Wohnformen, etwa die Abwägung des relativ verkehrsarmen Wohnens in einem dicht gepackten urbanen Zusammenhang gegenüber dem strukturell verkehrsaufwendigeren Wohnen in einer suburbanen Eigenheimsiedlung, fallen ebenfalls unter die Kategorie der Suffizienz.

Bezieht man diese Begrifflichkeiten nun auf die aktuelle Diskussion und innovationspolitische Praxis zur Elektrifizierung der Mobilität, so zeigt sich, dass hier bislang vor allem an der Effizienzstrategie festgehalten wird. Metaphorisch gesprochen geht es nach einer hoffnungsfroh stimmenden und offenen Aufbruchsphase heute im Grunde darum, den neuen technologischen Wein des batterieelektrischen Fahrzeugs (und seiner verschiedenen Variationen) in die alten Schläuche der überkommenen und offenbar nicht anzutastenden Nutzungskultur der privaten Massenmotorisierung zu gießen. Ging es in den konzeptionell breit angelegten Zielvisionen der Aufbruchsphase vor einigen Jahren durchaus noch um die umfassende energie- wie verkehrswirtschaftliche Integration der Elektromobilität als systemischen Gesamtzusammenhang aller Verkehrsträger, so steht heute vor allem das telematisch vernetzte und automatisierte Elektroauto im Privatbesitz im Vordergrund. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass diese Engführung der neuen Technologie mit der alten Nutzungsform – insbesondere vor dem Hintergrund der Globalisierung des westlichen Motorisierungsmodells – hoch problematisch ist. Elektrofahrzeuge sind aufgrund der für Motor, Energiespeicher, Steuerung und Fahrzeugaufbau benötigten seltenen Metalle und Rohstoffe in der Herstellung enorm ressourcenaufwendig und werden der Konsistenzanforderung der nachhaltigen Mobilität bislang nicht ge­recht.

Nur durch den flächendeckenden bislang aber eher noch für Nischenmärkte diskutierten Betrieb in den nutzungsoptimierten Anwendungskontexten einer Sharing-Kultur könnte die Materialintensität pro elek­tromobiler Serviceeinheit konsequent gesenkt werden. Kreislaufwirtschaftliche Produktions- und Rückführungssysteme werden bislang nicht diskutiert. Hinzu kommt, dass das Elektroauto seine Vorteile nur dann voll ausspielen kann, wenn es mit regenerativen Energien betrieben wird. Dieses würde die energiewirtschaftliche Integration über sogenannte Smart-Grid-Konzepte erfordern, die ebenfalls deutliche Veränderungen von Anspruch und Verhalten der Nutzer mit sich bringen würde. Weltweit betrachtet ist allerdings eher ein Trend beobachtbar, Elektroautos mit dem jeweils vorherrschenden, meist auf Kohle oder Atomkraft basierenden Energiemix zu betreiben.

Beide Aspekte verweisen nun darauf, dass sich die Fortführung der bisherigen Philosophie der Produktinnovation (die der Effizienzstrategie zugeordnet werden kann) in der Elektromobilität zu einer Sackgasse entwickelt, die den Anforderungen der nachhaltigen Mobilität nicht gerecht wird. Nur durch die Kombination mit die Konsistenzanforderung adres­sierenden Nutzungsinnovationen und schließlich die Einbindung in die umfassende Systeminnovation eines intermodalen, also verkehrsträgerübergreifenden – und damit massive Verhaltensänderungen implizierenden – Mobilitätskonzeptes (dieses entspricht der Suffizienzstrategie), würde eine nachhaltige Elektromobilität entstehen.

Ziele und Gestaltungskriterien nachhaltiger Mobilität

Im Sinne der oben formulierten Definitionen und Vorüberlegungen zur nachhaltigen Mobilität sollten die Mobilitätslösungen für die Zukunft also so schnell wie möglich den Pfad der fossilen Energienutzung verlassen, sie sollten eine geringstmögliche Materialintensität haben und verwendete Materialien in maximal möglichem Ausmaß wiederverwerten, sie sollten Mensch und Natur vor tödlichen Unfällen, dauerhaften körperlichen und seelischen Schäden und irreversiblen Verlusten an ökologischer Vielfalt schützen, und schließlich sollten sie robust sein gegenüber natürlichen Stressfaktoren, menschlichem und technologischem Versagen in komplexen Systemen oder gezielten militärischen wie terroristischen Attacken. Daraus ergibt sich der folgende Zielkatalog.

Erneuerbare Mobilität

Die einzige Möglichkeit, dauerhaft auf den Einsatz fossiler Treibstoffe in der Mobilität zu verzichten, sind Antriebssysteme auf der Basis regenerativer Energie. Mittel- bis langfristig sind Batterien neben Wasserstoff das beste Speichermedium für regenerative Energie aus solaren und geothermischen Quellen und der Windkraft. Dementsprechend werden zukünftig vor allem elektrische Antriebe für Fahrzeuge in allen Verkehrs­systemen zum Einsatz kommen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen batterieelektrischen, brennstoffzellenelektrischen und hybridelektrischen Antriebssystemen. Bislang ist nicht abzusehen, ob eine dieser Technologielinien dominant wird oder ob die Entwicklung aller drei Optionen zeitgleich in ihrem Charakter je entsprechenden regionalen und funktionalen Nischen vorangetrieben wird. Auch ist im Augenblick nicht ge­nau abzusehen, welche Rolle Wasserstoff als Energiespeichermedium in der Mobilität spielen wird. Seine Einsatzchancen in Brennstoffzellen zur Stromproduktion für Elektroantriebe steigen mit der Verbesserung sicherer und zugleich platz- und gewichtsoptimierter Speichermöglichkeiten. Insbesondere im Schwerlastbereich der Mobilität, also bei den Lkw-Transporten, dem Schiffsverkehr, der Landwirtschaft, dem Baugewerbe, der Industrie und der Luftfahrt ist der Ersatz von fossilen Treib­stoffen durch regenerativ erzeugte Elektrizität schwierig. Während bei Schiffen mittelfristig brennstoffzellenelektrische Antriebe in Kombination mit neuartigen Drachenzugsystemen eine aussichtsreiche Entwick­lungsperspektive bieten, könnte in den anderen Bereichen der Einsatz von regenerativ erzeugten Biokraftstoffen der zweiten und dritten Generation (zum Beispiel auf Algenbasis) eine Lösung sein. Voraussetzung ist allerdings, dass es bei ihrer Produktion nicht zur Konkurrenz mit der Nahrungsmittelerzeugung kommt.

Eine zentrale Bedingung dafür, möglichst viel regenerative Energie in das Mobilitätssystem einzubringen, ist der Ausbau der kollektiven Verkehrssysteme – also E-Busse, Straßenbahnen, U- und S-Bahnen im urbanen Bereich und Fernbahnen und Nachtzüge im regionalen und über­regionalen Verkehr. Insofern hier ein flächendeckender und durchgängiger Betrieb mit Strom möglich ist, kann die Verlagerung von der Straße auf die Schiene und von der Luft auf das Wasser helfen, das Gesamtniveau dieser strukturell konversionsresistenten Verkehre zu reduzieren.

Damit würde die Menge des in diesen Bereichen dann noch nötigen Biokraftstoffs ebenso verringert wie der Ressourcenaufwand der im Straßenverkehr eingesetzten E-Fahrzeugflotte. Denn gerade aufgrund der enormen Ressourcenintensität elektrischer Antriebssysteme und ihrer Energiespeicher ist es – wie oben bereits thematisiert – geboten, das Ausmaß individualisierter Transporte im Privat- und Geschäftsverkehr wie auch in der Güterlogistik generell zu reduzieren. Eine technologische Transformation dieses Ausmaßes ist nicht von heute auf morgen zu schaffen. Für die Übergangszeit sind die weitere Effizienzoptimierung bestehender Antriebs- und Fahrzeugsysteme (etwa über die weitere Verbesserung der Motorentechnologie) und der Einsatz von Gas – zum Beispiel im Schwerlastverkehr – Wege, um die Gesamtmenge der genutzten fossilen Ressourcen zu reduzieren beziehungsweise deren spezifische Emissionslast zu verringern. Und die Reduzierung von Gewicht und Geschwindigkeit ist eine Möglichkeit, den Aufwand der einzusetzenden fossilen Treibstoffe zu verringern. So kann eine Geschwindigkeitsdrosselung im Schiffsverkehr um nur wenige Prozent signifikant Treibstoff und Kosten sparen. Viele Reeder gehen deswegen schon heute diesen Weg und gleichen den Verlust an Ladekapazität durch den Einsatz zusätzlicher Schiffe aus.

Insgesamt wäre eine Reduktion des Geschwindigkeitsniveaus über alle Verkehrsträger zur Verbrauchs- und Emissionsverringerung sofort umsetzbar. Ohne den starken Trend zum Upsizing im Automobilmarkt wären auch hier die realisierbaren Einsparungen aufgrund der enormen Fortschritte in der Motorentechnologie theoretisch viel größer, als sie es im Moment tatsächlich sind. Zum einen bringt die Anpassung der Assistenz- und Sicherheitstechnologie und der Aufbauauslegung der Fahrzeuge an hohe Endgeschwindigkeiten einen Teil des Gewichtszuwachses mit sich, zum anderen ist der Gewichtszuwachs, insbesondere im Bereich des SUV-Segments, einem Markt- und Designtrend geschuldet. Eine generelle, politisch forcierte Senkung des Geschwindigkeitsniveaus und damit der Sicherheitsanforderungen könnte hier gegebenenfalls dazu beitragen, auch den Trend zum Gewichtsanstieg und den damit immer verbundenen erhöhten Energieverbrauch zu ver­hindern.

Dematerialisierte Mobilität

Die Verkehrsnachfrage und mit ihr der Material- und Ressourcenverbrauch der Mobilität sind bereits heute enorm und werden in der Zukunft weiter stark ansteigen. Prinzipiell sind drei Wege denkbar, um die­sen Anstieg in den Griff zu bekommen: erstens über die Etablierung kreislaufwirtschaftlicher Produktionsprinzipien, bei denen die Abfallprodukte eines Produktlebenszyklus wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Produktlebenszyklus werden. Eine solche Produktion »von der Wiege bis zur Wiege« 26 wäre im Idealfall vollkommen in sich geschlossen und käme ohne oder mit einem sehr reduzierten Maß weiterer Aus­beutung von Primärressourcen aus. Allerdings setzt die Kreislaufwirtschaft die Etablierung eines neuen Produktionsmodells voraus und ist insofern zunächst vor allem noch ein elegantes theoretisches Modell.

Zweitens können vermehrt Baustoffe, Farben und Textilien eingesetzt werden, die einer »solaren Chemie« 27 entstammen, also letztlich auf natürlichen Rohstoffen basieren und damit die Unabhängigkeit von der momentan allgegenwärtigen Petrochemie mit sich bringen. Als Leitbild der Etablierung neuer Designphilosophien und Produktionsmethoden in der Verkehrsgüterindustrie können heute beide Ansätze dienen. Gerade die Automobilwirtschaft wird zukünftig nicht ohne sie auskommen, da im Zuge der Umstellung auf Elektromobilität (ganz gleich ob batterie- oder wasserstoffbasiert) einerseits und der weiteren Trends zur digitalen Vernetzung und Automatisierung des Fahrzeugs andererseits enorm seltene, hochwertige und teure Rohstoffe zum Einsatz kommen, zu denen der Zugang schon jetzt prekär ist.

Den dritten Weg zur Dematerialisierung der Mobilität bietet die Strategie der Nutzungsinnovation, also der möglichst effizienten Auslastung alles fahrenden Geräts auf allen Strecken und zu allen Zeiten. Die Tatsache, dass heute Pkw in Privatbe­sitz im Durchschnitt 23 Stunden am Tag nicht genutzt werden, ist ein betriebs- wie volkswirtschaftlich irrationaler Luxus, der in der zukünftigen Mobilitätswelt nicht weiter aufrechtzuerhalten sein wird. Alle Konzepte und Geschäftsmodelle der Mobilitätswirtschaft, die das Nutzen dem Besitzen vorziehen und die anteilige Nutzung eines Fahrzeuges ökonomisieren, sei es als Carsharing, Carpooling, Mitfahrzentrale etc., und damit die Auslastung des einzelnen Produktes erhöhen, minimieren zugleich – unter Ceteris-paribus-Bedingungen – den absoluten Produkt- und Materialaufwand der Mobilität.

Fahrzeuge konsequent auf diese Formen des kollaborativen Konsums und der »Share Economy« auszurichten, würde auch bedeuten, neue Gestaltungsphilosophien und Produkteigenschaften zu entwickeln. Das Ziel wäre dann etwa die Entwicklung extrem hochwertiger und auf permanente und langlebige Nutzung durch unterschiedliche Kunden ausgelegter Fahrzeuge statt – im Extremfall – kurzlebiger Niedrigpreisprodukte für den chinesischen Low-Budget-Massenmarkt. Solche hochwertigen Fahrzeuge wären dann zu teuer für den durchschnittlichen Privatkunden und würden sich auch für die Automobilwirtschaft betriebswirtschaftlich nur in Kombination mit neuen Wertschöpfungskonzepten für Mobilitätsdienstleistungen rechnen.

Sichere Mobilität

Mangelnde Verkehrssicherheit ist weltweit vor allem ein Problem des Straßenverkehrs. Hier treffen unterschiedliche Verkehrsarten und die Ansprüche und Verhaltensweisen einer großen Menge von Verkehrsteilnehmern in sehr komplexer Weise aufeinander. Insofern ist die ­Frage der Verkehrssicherheit in erster Linie eine Frage der Verkehrskultur. Natürlich kann durch technologische Anstrengungen (Sicherheitsgurt, Assistenzsysteme, Fahrzeugdesign), planerische Konzepte (Fahrradstra­ßen, shared space, Spielstraßen, Gestaltung von Kreuzungen), ordnungs­rechtliche Maßnahmen (Tempo-30-Zone, Tempolimit, Promillegrenzen für Blutalkohol) und hoheitliche Überwachung (Geschwindigkeits- und Alkoholkontrollen) bereits ein hohes Maß an Sicherheit erreicht werden, wobei die Reichweite der genannten Maßnahmen noch gar nicht ausgeschöpft ist – ein einheitliches und konsequentes Tempolimit auf der Autobahn könnte in Deutschland zum Beispiel dazu beitragen, sowohl Energie zu sparen als auch die Sicherheit zu erhöhen.

Der eigentliche Schlüssel zur Verkehrssicherheit liegt allerdings in der Veränderung von Einstellungen und Verhaltensmustern der Verkehrsteilnehmer. Eine umfassende Mobilitätserziehung, die neben der Vermittlung von regelgerechten Verhaltensmaßstäben vor allem die zentrale Rolle subjektiver Kooperationsbereitschaft betont, kann hier eine wichtige Rolle spielen. Der Blick in die Regionen nachholender Mobilisierung zeigt, dass die Zahl der Verkehrsopfer mit der Geschwindigkeit der Motorisierung steigt. Ein alternatives Verkehrssystem, das auf der Kombination von kollektiven Verkehrsträgern, Fahrradverkehr und temporeduzierter Mikromobilität (elektrobetriebene Klein- und Leichtfahrzeuge) basiert, ist nicht nur den zukünftig zu erwartenden Dichteverhältnissen der ent­stehenden urbanen Megazentren und ihrer prinzipiell problematischen Luftqualität angemessen, sondern wird auch mit einer massiven Ver­bes­serung der Verkehrssicherheit einhergehen.

Resiliente Mobilität

Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit und Festigkeit eines Individuums, einer Gesellschaft oder einzelner ihrer Funktionssysteme ge­genüber Störungen, Krisen und Katastrophen. Diese Fähigkeit sollte für die Gestaltung zukünftiger Mobilitätssysteme aus verschiedenen Grün­den eine wichtige Rolle spielen.

Erstens: Je abhängiger Gesellschaften von einem hohen Niveau an Mobilität und sicher planbaren Transportdienstleistungen sind, desto größer ist das Schadenspotenzial von Störfällen und Verzögerungen. In einer Zeit, in der der überwiegende Teil der Bevölkerung in der industrialisierten Welt sich mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs über den Einzelhandel versorgt, statt sie selbst zu produzieren, können größere Versorgungskrisen schon in we­nigen Tagen entstehen.

Zweitens: Je feingliedriger, komplexer und (digital) vernetzter ein Ver­kehrssystem aufgebaut ist, desto größer ist das Risiko, dass sich externe oder interne Störfälle schnell im gesamten System fortsetzen und sich die Schadenswirkungen akkumulieren.

Drittens: Ein Verkehrssystem ist umso verletzbarer, je größer der Anteil an digitaler Technologie ist, die zu seiner Betriebsführung eingesetzt wird. In einer Zeit, als Weichen noch mechanisch gestellt wurden und der Straßenverkehr noch ohne Verkehrsleitsysteme auskam, war es deswegen natürlich auch nicht möglich, über Softwaremanipulationen von entfernter Stelle aus Störungen zu provozieren.

Alle drei Problemlagen betreffen schon heute die laufend modernisierten Verkehrssysteme. Verstärkend wirkt hierbei, dass die Vielfalt potenzieller externer wie interner Störfaktoren beständig zunimmt. Klimabedingte Starkwetterereignisse, technisches wie menschliches Versagen in den hochkomplexen Abläufen der modernen Systemarchitekturen sowie Manipulationen und Hackerangriffe jeglicher Provenienz werden eintreten. Deswegen ist Resilienz eine Qualitätsanforderung an nachhaltige Verkehrssysteme, um Störfälle mit großem ökonomischem und sozialem Schadenspotenzial möglichst auszuschließen.

Mögliche Lösungen sind robuste Infrastruk­turen durch redundante Systemarchitekturen, die Ersatzmöglichkeiten, Vervielfältigung, Verlinkung, Spiegelung und den Erhalt mechanischer Steuerelemente ebenso einschließen wie besondere Systemkontrollen und den Einbau von Zeitpuffern. Die Störfallproblematik wird durch externe, nicht in Aufbau und Betrieb der Verkehrssysteme selbst liegende Anforderungen noch verschärft: so zum Beispiel durch eine engmaschige Just-in-time-Logistik, mit der eigentlich privatwirtschaftliche Lagerhaltungskosten in die Infrastrukturen verlagert und damit auf die Gemeinschaft externalisiert werden. Transportintensive Geschäftsmodelle mögen die einzelbetrieblichen Kosten minimieren, erhöhen aber die externen Kosten, die von der Gesellschaft getragen werden. Hier ist grundsätzlich zu fragen, ob solche Strukturen nicht zurückzufahren wären. Dadurch würden die Risiken für einzelne Unternehmen, letztlich aber auch für gesamte, in ihren Wertschöpfungsketten hochvernetzte Branchen wieder geringer. Zugleich würden Umweltkosten minimiert.

Perspektiven einer digitalen Schubumkehr

Im engeren Sinne lässt sich Digitalisierung beschreiben als die Verwendung von computergestützten Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) für die Berechnung, Steuerung und Vernetzung von Prozessen, Handlungsabläufen und Produktsystemen. Etwas allgemeiner lässt sich der Prozess der Digitalisierung als die zunehmende Durchdringung aller Wissens- und Lebensbereiche mit digitalen Systemen beschreiben. Industrielle Produktionsprozesse bestehen weiterhin, vor allem aber eine durch die digitalen Medien letztlich noch beflügelte und erweiterte Dienstleistungsökonomie. In den Begriffen der Innovationsökonomik formuliert, kann man den Entwicklungsprozess von der Industriegesellschaft über die Dienstleistungsgesellschaft zur digitalen Gesellschaft beschreiben als die zunehmende Erweiterung der klas­sischen Produktinnovation über Nutzungsinnovationen hin zur digital unterstützten Systeminnovation. Weitreichende systemische Innovationen werden durch die digitale Überwindung der bislang überwiegend materiellen Beschränktheit und mangelnden Flexibilität großtechnologischer Infrastruktursysteme in unserer Gegenwart erst im umfänglichen Sinne möglich wie zum Beispiel das Zusammenwachsen von Energie-, Kommunikations- und Verkehrssparte im sogenannten »Smart Grid«.

Der Bereich der Mobilität und der Mobilitätswirtschaft ist heute in vielfältiger Hinsicht eines der dynamischsten Experimentierfelder digital basierter Produkt-, Nutzungs- und Systeminnovationen im Betrieb wie in der Entwicklung und Erstellung von mobilitätswirtschaftlichen Produkten. Angesichts dieser ausgesprochen rasanten, in völlig neue Anwendungsfelder vordringenden Entwicklung wird hier die These vertreten, dass die Digitalisierung das Potenzial hat – metaphorisch gesprochen –, zum Treibstoff der globalisierten Mobilitätswirtschaft des 21. Jahrhunderts zu werden.

Mit anderen Worten: Sowohl sich komplementär als auch substitutiv zum realen Verkehr verhaltende Datenströme haben womöglich die Wirkmacht, die wenig zukunftsfähigen und flexiblen Mobilitätsformate der fossil-industriellen Phase – hier insbesondere die im 20. Jahrhundert entwickelte Abhängigkeit des Transportsektors vom Erdöl – in ökologisch, ökonomisch wie sozial nachhaltige Systeminnovationen einer dann womöglich solar-digital zu nen­nenden Phase der Mobilitätswirtschaft zu transformieren. An die Stelle der rein mechanischen Schubkraft der fossil-industriellen Phase, die auf der enormen Energiedichte des Erdöls und seiner Derivate beruhte, tritt im digitalen Zeitalter die ubiquitäre Intelligenz der digitalen Technologie. Die durch keine Brenn­stoffalternative in absehbarer Perspektive ersetzbare hohe Energiedichte der fossilen Treibstoffe wird nun durch eine enorme Informationsdichte in intelligenten, vernetzten und logistisch optimierten Prozessabläufen abgelöst. Aus Nutzerperspektive steht damit die Vision einer seamless mobility im Raum. Die digitalen Medien, hier insbesondere die zunehmend weitverbreitete Universalschnittstelle des Smartphones und seiner diversen Applikationsmöglichkeiten, spielen hier die Rolle technischer Integratoren für systemübergreifende Informationen und integrierte Buchungs- und Abrechnungssysteme. Auch wird mit Entwicklungen wie der Google-Brille oder der Apple-iView-Technologie die nächste Generation von Interfaces schon sichtbar. Durch sie können die für die integrierte Mobilität notwendigen logistischen Prozessschritte womöglich noch besser in die Handlungsabläufe und kognitiven Routinen der Nutzer integriert werden.

Ein auf diese Weise hochvernetztes und in seinen Abläufen beständig optimiertes intermodales Verkehrssystem könnte in Kombination mit dem konsequenten Einsatz regenerativer Energie und zusätzlich verkehrssubstituierender digitaler Technologien für die verschiedensten Formen von Teleaktivitäten (Telearbeit, E-Learning, Telemedizin etc.) und schließlich auf der Grundlage mittel- bis langfristig insgesamt dichter zu packender Siedlungsstrukturen funktionale Äquivalenz zum heutigen Erreichbarkeitsniveau in der Mobilitätswirtschaft mindestens herstellen, wenn nicht sogar noch Potenzial zu weiteren Entwicklungsschüben bereitstellen.

Allerdings sind neben den großen Chancen der Digitalisierung bereits jetzt schon die enormen Schattenseiten ihrer weiteren Entwicklung erkennbar. Neben der Gefahr einer umfassenden »Machtergreifung« sich selbst reproduzierender Algorithmen, mithin der Entstehung eines digitalen Konsum- wie Herrschaftstotalitarismus, demgegenüber die Erhaltung der Freiheit, der Selbstbestimmung und Autonomie des Bürgers und Konsumenten gegenüber den konvergierenden Macht- und Kontrollinteressen von Staaten, Geheimdiensten und Konzernen zu bewahren ist (Recht), sind es vor allem die spezifischen Risiken und Probleme der enormen Ressourcenintensität (Ressourcen) digitaler Produkte und Systeme und ihrer mangelnden Resilienz gegenüber komplexitätsbedingten Systemstörungen beziehungsweise gezielten Manipulationsversuchen (zum Beispiel Hackerangriffe und digitale Kriegsführung), die zukünftig gelöst werden müssen (Resilienz), um eine im umfassenden Sinne nachhaltige digitale Mobilitätskultur nicht auf Kosten von Freiheitsverlust, Sicherheitsbedrohungen und hohen ökologischen Kosten zu verwirklichen.

Fazit

Nach allem, was wir über die Wachstumsdynamik und die negativen Begleiterscheinungen des modernen Verkehrs wissen, erscheint die Wende zur Nachhaltigkeit in der Mobilität unumgänglich. Insbesondere in den schnell wachsenden, oft hoch verdichteten Weltregionen wird sie unabhängig von allen möglichen normativen Beweggründen zu einer schlichten Funktionsbedingung der sich auf engster räumlicher Grundlage modernisierenden Gesellschaften. Sie sollte deswegen als Leitorientierung aller weiteren verkehrspolitischen Diskussionen und Initiativen dienen.

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Das zur Verfügung stehende politische und technologische Instrumentarium ist vielfältig und differenziert einsetzbar. Insbesondere die dynamische Entwicklung der digitalen Medien und Technologien ist in dieser Hinsicht vielversprechend, um den sich abzeichnenden mobility peak der fossil-industriellen Entwicklungsphase mithilfe umfassender systemischer Innovationen in einer digital-solaren Epoche überwinden zu können. Voraussetzung dafür sind zwei Bedingungen. Erstens die Lösung der mit der Digitalisierung bislang noch verbundenen enormen Freiheits-, Sicherheits- und Ressourcenprobleme. Zweitens die gleichberechtigte Verknüpfung der drei Nachhaltigkeitsstrategien der Effizienz, der Konsistenz und der Suffizienz, wobei mithilfe stetiger Produkt-, Nutzungs- und Systeminnovationen der Verkehrsträger einerseits mit den Planungsinstrumenten einer integrierten Siedlungs- und Standortpolitik andererseits die Entstehung von Raumüberwindungsbedarf wie dessen tatsächliche Abwicklung in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht beständig optimiert werden kann.

Trotz dieser prinzipiellen konzeptionellen »Machbarkeit« ist die nachhaltige Schubumkehr der Mobilität kein marktwirtschaftlicher »Selbstläufer«, sondern das Leitbild eines sehr ambitionierten politischen Gestaltungsszenarios, welches in weiten Teilen sowohl den aktuellen ­mobilitätswirtschaftlichen Interessenkonstellationen als auch den vorfindlichen Ausprägungen privater Lebens- und Konsumstile deutlich widerspricht. Die Frage der Machbarkeit entscheidet sich im politischen Raum in der Diskussion um die zukünftigen Grenzen von Lebensstilen und Ansprüchen. Ohne den Primat der Politik im Sinne starker Rahmenregulierungen, mutiger Investitionsentscheidungen und schließlich des Anliegens im Rahmen staatlicher Daseinsvorsorge attraktive Leitbilder nachhaltiger Mobilität anzubieten, wird die Mobilitätswende nicht gelingen.

1 Vgl. Will Steffen, Paul J. Crutzen, John R. McNeill: »The Anthropocene: Are Humans Now Overwhelming the Great Forces of Nature?«, in: Ambio, 36/8 (Dezember 2007), S. 614–621.
2 Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011.
3 Ebd. S. 124 ff.
4 Ebd. S. 172.
5 Ebd., S. 144.
6 Ebd., S. 488 ff.
7 Vgl. Günther Bachmann: »Die Modernität der Bestandserhaltung«, in: Wolfgang Haber: Die un­bequemen Wahrheiten der Ökologie. Eine Nachhaltigkeitsperspektive für das 21. Jahrhundert. Carl-von-Carlowitz-Reihe Band 1. Herausgegeben vom Rat für Nachhaltige Entwicklung. München 2011, S. 9–14, hier S. 11.
8 World Commission on Environment and Development (WCED) (Hrsg.): Our Common Future. Oxford 1987, S. 64.
9 Radkau 2011, S. 181.
10 Ebd.
11 Stephan Rammler: Mobilität in der Moderne. Geschichte und Theorie der Verkehrssoziologie. Ber­lin 2001, S. 19.
12 Hans Dollinger: Die totale Autogesellschaft. München 1972
13 Etwa Eckhardt Kutter: »Mobilität als Determinante städtischer Lebensqualität«, in: Leutzbach (Hrsg.): Verkehr in Ballungsräumen. Schriftenreihe der DVWG B 24, Köln, Berlin 1975, S. 65–75; G. Wolfgang Heinze: »Verkehr schafft Verkehr. Ansätze zu einer Theorie des Verkehrswachstums als Selbstinduktion«, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung, Jg. 23, Heft 4/5 (1979), S. 9–32; Heiner Monheim: Grundzüge einer alternativen Stadtverkehrspolitik. Reinbek 1979; Manfred Wermuth: Struktur und Effekte von Faktoren der individuellen Aktivitätennachfrage als Determinanten des Personenverkehrs. Bad Honnef 1978.
14 Etwa Werner Brög: Überlegungen zur Bildung von verkehrswissenschaftlichen Modellen aus der Sicht der empirischen Sozialforschung (1976). Papier für den ersten Workshop der DVWG »Policy Sensitive Models«, vom 06.–08.09.1979. München 1979; ders.: »Überlegungen zu neueren Ansätzen bei der Bildung von verkehrswissenschaftlichen Modellen«, in: Internationales Verkehrswesen 31/4 (1979), S. 207–210; Wolfgang Linder, Ullrich Maurer, Hubert Resch: Erzwungene Mobilität. Alternativen zur Raumordnung, Stadtentwicklung und Verkehrspolitik. Köln, Frankfurt am Main 1975; Thomas Krämer-Badoni, Herbert Grymer, Marianne Rodenstein: Zur sozio-ökonomischen Bedeutung des Automobils. Frankfurt am Main 1971; Erika Spiegel: »Zur gegenwärtigen Situation der Verkehrssoziologie in der Bundesrepublik«, in: Stadt, Region, Land. Schriftenreihe des Institutes für Stadtbauwesen der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen 36 (1976), S. 1–22; Wolfgang Sachs: »Die Bedeutungshaut des Automobils. Annäherung an die Kultur der Hochenergiegesellschaft«. Schriftenreihe Energie und Gesellschaft 11 (1981), Technische Universität Berlin; ders.: Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick auf die Geschichte unserer Wünsche. Reinbek 1984.
15 Vgl. Ulrich Burmeister: »Weichen stellen für eine sanfte Mobilität«, in: schrägstrich 1-2 (1997), S. 6–27.
16 Bernhard Glaeser (Hrsg.): Humanökologie. Grundlagen präventiver Umweltpolitik. Opladen 1989, S. 25 ff.
17 Werner Linden: Dr. Gablers Verkehrs-Lexikon. Wiesbaden 1966, S. 1646.
18 Kutter 1975, S. 64.
19 Wermuth 1978.
20 Kutter 1975, S. 66.
21 Vgl. Oliver Schöller-Schwedes: »The failure of integrated transport policy in Germany: a historical perspective«, in: Journal of Transport Geography 18/1 (2010), S. 85–96.
22 Kutter 1975, S. 65.
23 Vgl. Linder, Maurer, Resch 1975.
24 BUND, Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Basel, Boston, Berlin 1996, S. 153 ff.
25 Vgl. Oliver Schwedes: Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung. Wiesbaden 2011, S. 23.
26 Vgl. Michael Braungart, William McDonough (Hrsg.): Die nächste industrielle Revolution. Die Cradle to Cradle-Community. Hamburg 2009.
27 Vgl. Hermann Fischer: Stoffwechsel. Auf dem Weg zu einer solaren Chemie des 21. Jahrhunderts. München 2012.d

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