Interview mit Politikwissenschaftler Ulrich Brand

Radikaler Einsatz – für ein gutes Leben

Lesezeit:
7 minuten

22 November 2017
Eine gerechtere Welt ist keine Träumerei, sondern realistisch – zumindest wissenschaftlich gesehen. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Professor Ulrich Brand, der an Alternativen zum Kapitalismus forscht

Herr Professor Brand, wir möchten von Ihnen wissen, wie man in Zeiten der Globalisierung ein gutes Leben führen kann.

Da müsste man erst mal schauen, was mit dem Begriff gutes Leben heute gemeint ist, auch wenn das nicht ganz einfach ist. Zum einen heißt es, ein Eigenheim zu haben, Zugang zu allen Produkten, die über den Weltmarkt bereit gestellt werden; Dinge, die man möglichst schnell erneuern kann, weil sie so günstig sind. Aber wenn wir die progressive Debatte über gutes Leben betrachten, ist damit in erster Linie eine Kritik an unserer ressourcenintensiven und ausbeuterischen Lebensweise verbunden, und die Frage, was mögliche Alternativen sein könnten.

Die Definition reicht also nicht aus.

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Die Definition lautet hier eher: Ein sinnerfülltes Leben, das materiell abgesichert ist, und in dem man in Notfällen, wie Krankheit und Arbeitslosigkeit, auf gesellschaftliche Unterstützung zurückgreifen kann. Ein Leben im Bewusstsein, dass die ökologische Krise sich zuspitzt und dass gleichzeitig viele andere Menschen auf der Welt auch ein gutes Leben haben wollen, ob in China oder Brasilien.

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Selbsthilfebücher boomen, viele Menschen wollen Gutes tun. Was macht die Frage nach einem guten Leben jetzt wieder so aktuell?

Ich denke, dass die Frage ganz stark mit den Erfahrungen der Globalisierung zusammenhängt. Viele Menschen erleben eine enorme Arbeitsverdichtung, gleichzeitig haben die Hartz-Reformen zur Prekarisierung und Spaltung geführt. Selbst die Topleute unter meinen Studierenden haben Angst, abzurutschen. Ich kannte das als Student nicht. Die Globalisierung hat für Menschen mit dem entsprechenden Einkommen sicherlich auch Vorteile, wir spüren aber auch, dass sie zunehmend zu Druck und zu Unwohlsein führt. Die meisten wissen, dass unser Leben nicht okay ist. Dass wir auf Kosten anderer leben und auf Kosten der Natur.

Wenn man heute mit Meinungsforschern spricht, dann wird die Globalisierung durch alle Schichten überwiegend kritisch gesehen.

Das ist richtig. Aber man muss schon überlegen, wofür Globalisierung eigentlich steht. Zum einen gibt es die Alltagserfahrungen von vielen Menschen auf der Konsumebene: Die Globalisierung ist hier etwas Positives, weil das Angebot groß und günstig ist. Da schaut man dann nicht genau hin, ob zum Beispiel Palmölplantagen dazu führen, dass die Kleinbauern vertrieben werden. Aber die Globalisierung ist inzwischen auch eine Chiffre einer Unübersichtlichkeit, einer Verunsicherung.

Weil viele glauben, der Prozess sei nicht zu kontrollieren und die Politiker seien machtlos.

Die zunehmende Vermögenskonzentration führt zu Unmut in der Gesellschaft. Einerseits sagt man den Leuten, ihr müsst den Gürtel enger schnallen, und andererseits werden die Reichen immer reicher. Dennoch halte ich es für ein Scheinargument, wenn die Politik sagt, man müsse sich den Märkten fügen. Die Globalisierung ist nicht nur ein ökonomischer Prozess, sondern auch ein politischer. Die Politik hat ja die Globalisierung vorangetrieben. Die EU treibt heute die Handelspolitik voran in afrikanischen Ländern, wissend, dass sie dort die lokalen Märkte kaputt macht, damit die eigene Industrie sich durchsetzt. Und die Welthandelsorganisation oder eben die Freihandelsabkommen sind ja auch Politik – halt im Interesse der Starken.

Was ist Ihre Haltung: Ist die Globalisierung positiv oder negativ zu bewerten?

Ich würde sagen, insgesamt ist sie sehr destruktiv, weil sie zu sozialer Spaltung, zur Verarmung, zu Umweltschäden, zu Klimawandel führt. Aber sie hat natürlich für viele Menschen, hunderte Millionen allein in China, und Menschen in den kapitalistischen Zentren auch die materiellen Lebensverhältnisse verbessert. Das Problem ist, dass die kurzfristige materielle Verbesserung mit einer Verschlechterung der langfristigen Lebensbedingungen einhergeht. Was nutzt mir heute Wohlstand in Peking, wenn meine Kinder Bronchitis bekommen?

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer Demokratiekrise. Was meinen Sie damit?

Wir konnten in den letzten Jahren feststellen, dass in Krisensituationen die Politik autoritärer wird: Ein Großteil der Eliten versucht sich schadlos zu halten, notfalls ohne Rücksicht auf Verluste und zulasten von Teilhabe. Wir können in vielen Ländern beobachten, dass in Wirtschaftskrisen die breite Bevölkerung geschwächt und abgekoppelt wird, Protest notfalls unterdrückt. In Lateinamerika ist das aktuell relativ deutlich, auch in Griechenland, Russland, der Türkei, Ungarn und den USA.

Der Demokratie wird oft vorgeworfen, sie sei sehr langsam. Grundlegende Entscheidungen seien schwer durchsetzbar, wenn man Kompromisse machen muss. Sehen Sie das auch so?

Da muss man differenzieren: Wir unterscheiden in der Politikwissenschaft zwischen Input-Legitimation und Output-Legitimation. Die Input-Legitimation heißt, dass eben demokratisch verhandelt wird: Was wollen wir, was sind angemessene Politiken? Dann wird das über das politische System verarbeitet und führt zu einer Entscheidung. Die Output-Legitimität misst sich am Ergebnis der politischen Entscheidung. Kanzler Schröder hat damals sinngemäß gesagt: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. Es gibt keine linke und rechte Wirtschaftspolitik, es gibt nur eine „gute“ Wirtschaftspolitik.

Das zeigt doch, dass die Demokratie eher hinderlich ist, um einen gesellschaftlichen Turnaround zu schaffen.

Das Gegenteil ist richtig. Wir brauchen eine Radikalisierung der Demokratie.

Heißt was?

Eine Radikalisierung der Demokratie bedeutet, dass überhaupt Menschen kompetent darin werden, die Probleme, die sie haben, öffentlich zu äußern und in den politischen Prozess einzubringen. Wir brauchen ein parlamentarisches System, das sich nicht nicht durch die politische Unterwerfung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum auszeichnet. Probleme wie Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, müssen überhaupt erst wieder ernsthaft berücksichtigt werden, sie sind Rhetorik. Auf dem jüngsten G20-Treffen wurde viel über das Klima gesprochen, aber es wird sich nichts tun, weil sich auch durch das Pariser Klimaabkommen von 2015 nichts tut. Im Zweifel geht es um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Wir brauchen eine Radikalisierung von Politik im Sinne von: Wer kann überhaupt gesellschaftliche Interessen und Forderungen formulieren, die auf der Höhe der Zeit sind? Das machen heute fast nur die Eliten.

Ich stelle es mir schwierig vor, wenn eine Partei im Wahlkampf mit dem Thema Wachstumsrückgang an die Macht kommen möchte.

Die Parteien könnten doch ernsthaft sagen: Wir stehen für ein gutes Leben für alle, wir wollen ein Mobilitätssystem, das primär nicht mehr auf Automobilität setzt, weil sie exklusiv ist, die Städte schmutzig macht, die Umwelt zerstört. Dasselbe zum Thema ökologische versus industrielle Landwirtschaft. Das wäre eine Perspektive, die gut durchgearbeitet und überzeugend vertreten werden müsste. Mir ist klar, dass man damit heute keine absolute Mehrheit bekommt, aber es wäre für das progressive Lager durchaus wichtig.

Warum ist Wachstum in Deutschland so ein Heilsbringer?

Einerseits gibt es die historische Erfahrung des Nachkriegskapitalismus, dass eben Wachstum Umverteilungsspielräume bedeutet. Die Gewerkschaften wissen ganz genau, dass es vielen Menschen in den 1950er und 1960er Jahren besser ging als heute, weil es hohe Wachstumsraten gab. Zweitens stehen natürlich ökonomische Interessen dahinter. Wenn es Wachstum gibt, werden Profite gemacht. Und drittens lässt sich die Politik daran messen. Eine Politik, die hohe Wachstumsraten schafft, wird bislang besser bewertet. Was wir brauchen, ist ein Kulturwandel, einen Diskurswandel, weg von dieser Fixierung auf Wachstum.

Wer kann diesen Wandel herbeiführen?

Die Politik muss die Rahmenbedingungen liefern, dass zum Beispiel eine Mobilitätspolitik dafür sorgt, dass weniger Autos auf den Straßen sind, dass Straßen zurück gebaut werden, dass der öffentliche Verkehr aufgebaut wird. Das müssen die Leute dann allerdings auch annehmen.

Veränderungen gehen also nicht vom Volk aus, sondern die Politik muss sie erst mal wollen?

Wir wissen aus der Mobilitätsforschung, dass die Leute in der Regel nicht aus ökologischen Beweggründen umsteigen, sondern weil sie ein Angebot an gutem öffentlichen Verkehr oder Radwegen haben. In der Ernährung sieht es etwas anders aus. Viele junge Menschen hören auf, Fleisch zu essen, weil sie es ethisch nicht okay finden, oder weil sie es aus Gesundheitsgründen ablehnen. Wir müssen immer genau fragen, was mögliche individuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Wahrnehmungen sind, die es zu verändern gilt.

Wie müsste diese Frage lauten?

Brauchen wir Wachstum oder ein gutes Leben, und was sind dann die politischen Rahmenbedingungen? Politik ist ja selbst ein Feld von Auseinandersetzungen. Sie muss Regeln verändern, Bildungsprozesse, Lernprozesse ermöglichen. Dass es eben nicht mehr geil ist, einen SUV zu haben, oder möglichst billig Fleisch zu essen oder ein 4,95-Euro-T-Shirt von H&M. Das braucht Rahmenbedingungen, und es braucht sich verändernde Bedürfnisse der Menschen, sowie andere gesellschaftliche Diskurse und gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten. Das ist sozusagen der Dreischritt, den wir komplett verschieben müssen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Solche Prozesse beginnen oft mit gesellschaftlichen Konflikten. Denken Sie an die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, die Forderungen gestellt haben, die heute Selbstverständlichkeiten sind. Die Aktiven in der Anti-AKW-Bewegung sind in den 1970er-Jahren für verrückt und fortschrittsfeindlich erklärt worden. Nehmen wir nochmal die Skepsis gegenüber Fleischkonsum. Während man in den 1970er-Jahren gesagt hat, Wohlstand ist jeden Tag Fleisch zu essen, gibt es einen Wertewandel. Heute sagen viele: Ich will weniger oder gar kein Fleisch essen. Und jetzt muss die Politik nachziehen und sagen: Wir schließen die Fleischfabriken. Wir akzeptieren in Deutschland kein billiges Fleisch mehr und wir fördern massiv die ökologische Landwirtschaft.

Sehen Sie als Wissenschaftler die Chance, dass etwas Gerechteres entstehen kann, als der Kapitalismus, so wie wir ihn kennen?

Ich sehe Kapitalismus nicht als ein homogenes System. Die Ziele des Kapitalismus heißen ja Profitorientierung, Produktion um der Produktion willen, Tauschwertorientierung. Menschen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, viele zu abscheulichen Bedingungen. Es gibt heute aber schon ganz viele alternative Ansätze.

Wo finde ich die?

Nehmen wir die Sozialökonomie oder den öffentlichen Sektor. Da sind Unternehmen, die die gesellschaftliche Daseinsvorsorge sichern und nicht das Profitstreben in den Vordergrund stellen. Denken Sie an den sozialen Wohnungsbau in Wien der zwanziger Jahre, der das Bedürfnis von Einkommensschwachen befriedigen sollte, zu wohnen. Es gibt eine ökologische Landwirtschaft, die auch nicht unbedingt profitgetrieben ist.

Können sich nicht profitorientierte Unternehmen denn auf lange Sicht wirklich durchsetzen?

Wir brauchen natürlich sinnvolle politische Entscheidungen; die gibt es ja schon. Denken wir an Mobilität, die öffentlich hergestellt wird. Wien hat ein wunderbares Verkehrssystem, es wird finanziell nur zu 50 Prozent durch den Ticketverkauf gedeckt, und die andere Hälfte zahlt die öffentliche Hand. Da geht das Postkapitalistische bereits los. Dazu kommt, dass Menschen weniger abhängig von Erwerbsarbeit sein sollten. Irgendwann ist es für alle okay, 25 Stunden zu arbeiten, nicht nur für jene in oft erzwungener Teilzeit. Sie bräuchten auch weniger Geld. Die Leute müssen nicht ihre 400 Euro mehr im Monat verdienen fürs Auto, weil sie kein Auto mehr brauchen. Sie können sich in Hamburg oder in Lüneburg oder in Wien oder auf dem Land gut bewegen, aber sie müssen dafür nicht so viel Geld verdienen.

Geben Sie uns doch zum Schluss eine Gebrauchsanweisung, wie jeder Einzelne von uns die Gesellschaft auf lange Sicht verändern kann.

Es gibt viele Ansatzpunkte. Beim eigenen Konsumverhalten würde ich immer empfehlen, zu reflektieren, was man wirklich braucht und dann zu schauen, ob es sozial und ökologisch vertretbar hergestellt wurde. Vielleicht kann das Produkt ja auch kollektiv genutzt werden. Es gibt doch in vielen Mehrfamilienhäusern eine lange Tradition, die Waschmaschine zu teilen. Warum nicht auch die Bohrmaschine?

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Veränderung geht also nur über Konsum?

Nein, es wäre ein Fehler zu sagen, die gute Gesellschaft entsteht nur über den angemessenen Konsum. Sie entsteht für mich auch als Hochschullehrer, wenn ich meine Studierenden anrege, über ihre Lebensweise und ihre beruflichen Perspektiven nachzudenken. Ich freue mich, wenn Studenten sagen, sie wollen bei einer kritischen Zeitung arbeiten, bei einer NGO, ins Umweltministerium und nicht ins Finanzministerium. Über die Lehre an der Uni trage ich dazu bei, dass Studenten eine kritische Welthaltung einnehmen können, ohne ihnen dabei etwas moralisch aufzudrücken. Nehmen wir andere Bereiche: Lehrerinnen und Lehrer bilden ihre Schüler aus, Sie informieren als Journalist Ihre Leser. Diese professionelle Ebene wird bei der Suche nach Alternativen oft vergessen.

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