Inklusive Gesellschaft ist machbar

„Genossenschaften sind Deutschlands stärkste Wirtschaftskraft“

Lesezeit:
6 minuten

1 February 2018

Die neue Welt der Zukunft für alle, ist eine Zukunft durch alle! Unsere Autoren beschreiben einen Innovationsprozess für Genossenschaften, der genau dieses Ziel verfolgt.

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1 February 2018

Zwei lange getrennte Welten können wieder zusammenwachsen: die der sozialen Innovationen und die der Genossenschaften. Arno Marx und Markus Stegfellner beschreiben einen Prozess, der vor 2016 mit diesem Ziel begann und noch lange nicht beendet ist.

Zum Verständnis des im Folgenden geschilderten Innovationsprozesses für Genossenschaften ist es wichtig, zunächst seine Entstehungsgeschichte zu kennen. Besser gesagt: die zwei Entstehungsgeschichten. Die eine beginnt am 11. November 2016: Das heutige WeQ Institute hat zum Vision Summit „Future for All – The Power of Social Inclusion“ nach Berlin geladen.

„Die neue Welt der Zukunft für alle = Eine neue Welt der Zukunft durch alle“ lautet das Motto. „Aus der faszinierenden Welt sozialer Innovationen kann eine neue gesellschaftliche Leitidee erwachsen“, heißt es in der Grundsatzerklärung von Franz Alt und Peter Spiegel. „Und wir werden überrascht sein, wie viel Pionierarbeit für diese neue Gegenwartsgestaltung bereits geleistet ist.“ Am Abend des Vision Summit 2016 wird die Erste Pariser-Platz-Rede gehalten: Muhammad Yunus wendet sich mit „Future for All – Redesign Economics to Redesign the World“ fast genau zehn Jahre nach seiner Friedensnobelpreisrede zu Social Business mit einem weit darüber hinausgehenden Konzept und Appell an die Welt. Er zeigt auf, wie ein neues, an heutige Erfordernisse besser angepasstes Verständnis und Design von Ökonomie tiefgreifend neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Welt insgesamt ebenso wie für jeden Einzelnen eröffnet. Eine inklusive Gesellschaft ist als „Zukunft für alle“ möglich und machbar.

Wir wollen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern.
Westerwälder Erklärung

Die zweite Entstehungsgeschichte spielt sich nur wenig später ab: Am 24. Januar 2017 veröffentlichen führende Genossenschaftsverbände und Vertreter*innen aus der Genossenschaftswelt die Westerwälder Erklärung. Unter der Überschrift „Mehr Raiffeisen wagen“ wird eine Fülle von gemeinsamen Zielen für Wirtschaft und Gesellschaft definiert. Alle Unterzeichner*innen bekennen sich zur sozialen Marktwirtschaft und zur gesellschaftlichen Teilhabe aller. Sie wollen die mittelständische Wirtschaft, den sozialen Frieden und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken, sie wollen die Mündigkeit und Eigenverantwortung aller Bürger*innen fördern und die demokratische Kultur beleben. Sie können dafür ein gehöriges Gewicht in die Waagschale werfen:

„Die Genossenschaften sind Deutschlands stärkste Wirtschaftskraft“, heißt es in der Westerwälder Erklärung, „sie werden von mehr als 22 Millionen Mitgliedern getragen. Keine andere Unternehmensform in unserer Gesellschaft hat eine derart breite Akzeptanz. Daraus erwächst Verantwortung.“

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Und sie wollen dieser Verantwortung durch entsprechendes Handeln gerecht werden: „Wir wollen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Wir wollen das anstehende Raiffeisen-Jahr 2018 nutzen, um Deutschlands Genossenschaftsbewegung umfassend zu präsentieren, ihr breit gefächertes Wirken zu veranschaulichen und sie zugleich durch konkretes Handeln in den Mittelpunkt rücken.“

Und auch die Brücke zur Welt der sozialen Innovationen wird in dieser Erklärung bereits geschlagen: „Soziale Innovation kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die Zeit dafür ist reif! Auf uns alle kommt es an!“ Diese beiden Entwicklungen sind völlig unabhängig voneinander entstanden. Aber sie können ideal zusammenpassen – hier die sozialen Innovator*innen, die eine bessere Zukunft für alle anstreben, und dort die traditionsreiche Bewegung für alle, die sich für soziale Innovationen öffnen will. Weitere Trends zeigen, dass ein Zusammenwachsen dieser beiden Welten förmlich in der Luft liegt:

  • Megatrend WeQ: Schon seit fast 200 Jahren ermöglicht die soziale Innovation der Genossenschaften weltweit mehr als einer halben Milliarde Menschen mehr Selbsthilfe und Teilhabe. Derzeit entsteht eine neue Generation von „Genossenschaften 2.0“.
    Der Zukunftsforscher Jeremy Rifkin erwartet, dass im Jahr 2050 bereits mehr als die Hälfte der Weltwirtschaft genossenschaftlich organisiert sein wird – in „WeComs“, wie wir diese nennen, also in WeCommunitys, die kollaborativ denken und wirken und sich am Gemeinwohl orientieren.
  • Laut der internationalen Studie „GRACE16“ (Global Research on Augmented Collaborative Economy 2016) glauben 86 Prozent der Mitglieder von Genossenschaften und 89 Prozent der Kund*innen von Genossenschaften, dass Aufbau und Gestaltung einer „kollaborativen Ökonomie“ das nächste Evolutionsstadium von Genossenschaften sein werden.
  • Blockchain und Co. sind nicht nur technologische Innovationen, sie können als soziale Innovation auch als Wegweiser in eine dezentralisierte Welt verstanden werden.

Vom Vision Summit und der Ersten Pariser-Platz-Rede inspiriert, entwickeln wir die Idee, einen Genossenschaftsinnovationsprozess zu starten. Mit der Leitfrage „Wie stärken wir das Aufblühen einer neuen Generation von Genossenschaften 2.0?“ formulierten wir dieses Innovationsanliegen: in einem cokreativen Prozess die Visionärin, den Spielveränderer und den Herausforderer der Genossenschaftswelt zusammenzubringen, um zukunftsweisende Prototypen und Modelle für Genossenschaften zu entwickeln. Mit dem Leitgedanken „Genossenschaftsinnovation braucht Raum und Zeit“ wurde als iterativer Innovationsprozess das Format „Geno-Wequbator“ (WeQ) entwickelt:

  • Bei einem ersten Summit im Juli 2017 in Berlin (in den Räumen der Axica/ DZ BANK) sollten aus den vier Themenfeldern „Vernetzung“, „Regionale Wertschöpfung“, „Kultur/Arbeitsweise“ und „Vision“ acht Prototypen und Spielpläne entwickelt werden.
  • Die Prototypen wurden im Inkubator zwischen Juli und Dezember 2017 in den Organisationen und bei potenziellen Nutzern getestet, um daraus Geschäftsmodelle zu generieren.
  • In einem zweiten Summit im Dezember 2017 in Montabaur (Akademie Deutscher Genossenschaften, ADG) sollten die Geschäftsmodelle konkretisiert und die Realisierung geplant werden.

Für den Innovationsprozess setzten wir das Arbeiten im WeQ-Modus als Rahmen: In einem kollaborativen Raum (WeQ Space) finden multidisziplinäre Teams die Haltung, Raumqualität und mit Design Thinking als Werkzeug die beste Prozessqualität für das Gestalten von Genossenschaftsinnovationen, die für morgen zählen. Mit „Wequbator“ wurde absichtlich ein von genossenschaftlichen Werten und Ideen geprägter eigenständiger Begriff für Innovation und Geschäftsmodellentwicklung etabliert – auch als Gegenpol zu den sich inflationär ausbreitenden und oft kapitalgetriebenen Inkubatoren.

Die Teilgeber*innen wurden von uns persönlich eingeladen. Dahinter steckte die Überlegung, dass diese Menschen – wie einst die Gründerväter der Genossenschaften – Pioniergeist in sich tragen und mit viel Energie, Leidenschaft und Spaß herausfinden wollen, welche Genossenschaftsinnovationen entstehen wollen. Darum sprechen wir auch von Teilgeber*innen. Eingeladen wurde ein breites Spektrum aus Deutschland, Österreich und der Schweiz: Vorstände von Kreditgenossenschaften, Insider*innen der neuen Platform-Coop-Bewegung, Impulsgeber*innen aus sozialen Innovationen, Gründer*innen und Akteur*innen neuer Genossenschaften, Vertreter*innen eines gemeinwohlorientierten Genossenschaftsverbands und so fort.

Begleitet werden sollte der Gesamtprozess von Design-Thinking-Professionals. Im Herzen der Hauptstadt, direkt am Brandenburger Tor, entfaltet sich durch die unterschiedlichsten Erfahrungen, Persönlichkeiten und Hierarchieebenen ein hochwertiges Denkniveau in einer produktiven, kreativen Arbeitsatmosphäre. Input geben, diskutieren, abwägen, verwerfen, neu denken – Ergebnisse wurden erarbeitet, im nächsten Schritt überprüft und durch frische Ideen ergänzt.

Die vielfältigen Biografien und Erfahrungen der über vierzig Teilgeber*innen kamen voll zum Tragen: Einer, der sich im Job mit Regionalwährungen und Bürgerfinanzierung beschäftigt, dockte beim Thema Vernetzung an, dachte speziell über die genossenschaftliche Ausgestaltung der Sharing Economy nach – das passt. Andere, thematisch unerfahrenere Teammitglieder interessierten sich einfach für einen Bereich und konnten so durch kreative Einfälle die Prototypentwicklung positiv beeinflussen. Acht Fragestellungen beziehungsweise Challenges kristallisierten sich heraus:

  • Wie können Genossenschaften die ihnen eigene Geschwindigkeit in einer immer schnelllebigeren Welt zum Tragen bringen?
  • Wie können Genossenschaften das Bekämpfen moderner Knappheiten zu ihrem Auftrag machen?
  • Wie kann ein Netzwerk von Genossenschaften Verbundenheit fördern?
  • Wie können wir die Sharing Economy genossenschaftlich gestalten?
  • Wie können Genossenschaften nichtmonetäre Wertschöpfung fördern?
  • Wie können wir das regionale Genossenschaftsprinzip aufs Globale übertragen?
  • Wie schaffen wir Lust auf Veränderung in der Komfortzone Genossenschaft?
  • Wie können neue und alte genossenschaftliche Modelle von- und miteinander lernen?

Offenkundig hatten wir einen Nerv getroffen. „An vielen Innovationsworkshops habe ich bereits teilgenommen, diese Veranstaltung von ADG und WeQ Institute war aber anders“, bilanziert etwa Holger Gelhausen, der in Kürze selbst für eine wertbasierte Innovation eine Genossenschaft gründen möchte. „Wir konnten sehr ehrlich und reflektiert miteinander kommunizieren und haben mit hoher Leidenschaft und Begeisterung zusammengearbeitet. Es ist schön, auf Menschen zu treffen, die das gleiche Ziel verfolgen.“ Auch das Fazit „Ziemlich genial, faszinierende Leute, einmaliges Moderationssetting, lässig“ von Max Ruhri, Mitglied der Geschäftsleitung der Freien Gemeinschaftsbank Genossenschaft in Basel, zeigt, dass neben den acht Prototypen eine echte Innovationscommunity entstanden ist, die sich bis jetzt auf circa siebzig Teilgeber*innen erweitert hat.

Der zweite Summit im Dezember 2017 an der Akademie Deutscher Genossenschaften (ADG) im Schloss Montabaur wurde so angelegt, dass alle Teilgeber*innen dieser Innovationscommunity – unabhängig davon, wer schon in Berlin dabei war und in welchem Stadium sich der Prototyp befindet – beitragen und sich einbringen konnten. Zusätzlich sollte in Montabaur ein Innovationsraum „Geno Mission“ geschaffen werden, in dem Antrieb, Wertekanon und Kraft der Genossenschaften als gesellschaftliche Bewegung erkundet werden können und so die Innovationen noch fundierter werden. Alle Voraussetzungen waren gegeben, einen weiteren großen Schritt genossenschaftlicher Innovation zu setzen.

Ausblick und Perspektive

Dieser hier geschilderte Innovationsprozess für Genossenschaften verfolgte zum einen das Ziel, konkrete Zukunftsmodelle zu entwickeln; zum anderen diente er selbst als Prototyp für viele weitere Innovationsprozesse gleicher Art in vielen weiteren Genossenschaften. Eines vorneweg: Der Geno-Wequbator kann – selbstverständlich mit Anpassungen an die jeweils individuelle Situation – bereits jetzt als role model dienen für von Genossenschaften initiierte regionale Genossenschaftsinnovationen. Der Geno-Wequbator kann zum Beispiel in einer ersten Phase von Genossenschaftsbanken dazu genutzt werden, die bereits vorhandene genossenschaftliche Community in neuer Qualität an sich zu binden, darüber hinaus neue Mitglieder anzusprechen und in die Zukunftsgestaltung einzubinden.

Größer gedacht, hat der Geno-Wequbator durchaus die Möglichkeit, die 30 Millionen Genossenschaftsmitglieder in Deutschland, Österreich und der Schweiz in neuer Form einzuladen und so eine Teilhabe an der Entwicklung von Projekten und Gründungen zur Verbesserung der regionalen Lebensqualität zu ermöglichen. Gerade Genossenschaftsbanken stehen vor der Herausforderung, ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln.

Der Geno-Wequbator stellt den innovativen Raum dar, in dem mit hoher Prozessqualität und einem hohen Involvierungsgrad der Genossenschaftsmitglieder die spezifischen Projekte für die jeweilige Region entdeckt und systematisch realisiert werden können. Dadurch kann, getragen durch die genossenschaftliche Community, in vielen Regionen der Wandel von der klassischen Bank zum Facilitator für regionale Lebensqualität beginnen und eine neue genossenschaftliche Wirkmächtigkeit entstehen. Denn die Genossenschaften verfügen bereits über die größte Community, sie können ihre bereits vorhandenen Ressourcen und Systeme einsetzen und so zum Motor einer breiten gesellschaftlichen Transformation werden. Und so schließt sich der Kreis zu „Future for All“: Die neue Welt der Zukunft für alle ist eine neue Welt der Zukunft durch alle.

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Anmerkung der Redaktion: David Diallo, Geschäftsführer des Social Publish Verlags, in dem auch enorm erscheint, ist auch Gesellschafter des WeQ Institutes. Dieser Text wurde ursprünglich in eigener Sache im Sonderheft enorm weconomy“ 2018 veröffentlicht.

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