Unterwegs auf Rügen

Inseltouren, die Leben verändern

Lesezeit:
6 minuten

14 December 2018

Der Münchner Fotograf Simon Koy reiste zweimal zwischen 2010 und 2014 um die Welt, oft war er in Asien. Überall stieß Koy dort auf schlafende Menschen. In jeder erdenklichen Situation machten sie ein Nickerchen und niemand störte sich daran, auch wenn es in der Arbeitszeit war. Seine Fotos zeigen, wie selbstverständlich die Auszeit mittendrin in Asien längst im Alltag ist

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14 December 2018
Florian Schröder bringt Rügenbesucher dahin, wo es wild ist, der Weg schlammig, der Strand ohne Aufsicht. Natur pur. Seine Inseltouren berühren die Gäste auf ungewöhnlich intensive Art. Wenn sie nach sieben Stunden aus seinem Geländewagen steigen, hat sich ihr Blick auf die Welt geändert – und sei es nur ein kleines bisschen

Der Wind reißt an den Haaren. Acht Windstärken sind für heute angesagt. Das Wasser spritzt hoch auf den Wanderweg, schon nach ein paar Minuten sind die Füße nass. Ohne das „Unternehmen Natur“ würden Maxi und Martin, beide 28, beide aus Sachsen, diesen Tag niemals draußen verbringen. Weil sie aber eine „Insel Safari Rügen“ bei Florian Schröder gebucht haben, stehen sie jetzt, Ende Oktober, im Südosten Rügens an einem menschenleeren Strand und schauen auf Schaumkronen, fliegendes Wasser und Wellen. „Schönwetter kann ja jeder“, sagt Maxi. Es klingt, als wolle sie sich selbst Mut machen.

„Zeitreisen und Seegraswiesen“ steht auf dem Jeep von Florian Schröder. Der 38-Jährige kommt aus Greifswald, trägt Trekkinghosen und Kapuzenpulli, hat ein breites Lächeln und einen kräftigen Händedruck. Seit drei Jahren fährt er mit Touristen, aber auch Einheimischen aus den Seebädern Usedoms und Rügens raus in die Peripherie.

Etwa sechs Millionen Gästeübernachtungen entfallen pro Jahr auf Rügen, Mecklenburg-Vorpommern hat Bayern als beliebtestes innerdeutsches Reiseziel abgelöst. Aber die Urlauber bleiben auf den ausgetretenen Pfaden, besuchen Museen und Schwimmbäder, flanieren über die Promenaden und Seebrücken.

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Mehr als nur Natur

Florian Schröder dagegen bringt seine Gäste dahin, wo es wild ist, wo die Wege schlammig, die Strände ohne Aufsicht sind. An Orte, die abseits von Strandkörben und Seebäderarchitektur etwas über die Gegend erzählen. Schröder will mehr als die Schönheit der Natur zeigen – er bietet einen Perspektivenwechsel. „Wann nimmt man sich sonst schon mal einen ganzen Tag Zeit, um mit einem Wildfremden durch die Gegend zu kurven?“

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Bis zu acht Gäste nimmt er auf eine Tour mit, Erwachsene zahlen 97 Euro für die sieben Stunden in seinem Geländewagen. „Wer mag, kann mit mir unter die Oberfläche blicken. Einfach, indem ich den Leuten zeige, was mir am Herzen liegt.“ Und das ist ein Mix aus Erdgeschichte, Geographie, Umweltbildung und Naturerlebnis. „Wenn meine Mitreisenden abends aus dem Landrover steigen, sind sie einen Tick anders drauf als am Morgen – offener, entspannter.“ Dabei mache er nichts anderes, als zu zeigen, was sowieso da sei: die Natur.

„Unser Alltag ist so naturfern, dass jede Begegnung mit einem Tier, jedes Erlebnis von Wasser, Wind und Sand zu etwas Besonderem wird.“ Auch wenn er nicht wisse, ob die großen globalen Probleme noch zu lösen seien, glaubt Schröder, dass Erlebnisse wie seine Touren Menschen zum Umdenken bringen können. „Vielleicht setzen sie sich ja für die Welt ein, wenn sie sehen, wie wunderbar sie ist.“

Schröder sucht den direkten Draht zu den Emotionen

In Putbus, Südostrügen, sind Maxi und Martin an diesem Morgen bei Florian eingestiegen. Sie ist Bauingenieurin, er Tiefbauexperte, beide sind eingepackt in Windjacken. Schweigsam sitzen sie auf der Rückbank des Geländewagens. Maxi hat das Angebot für die Inselsafari bei einer Internetrecherche entdeckt und Martin den Tag zum Geburtstag geschenkt.

Florian Schröder stört nicht, dass sie wenig sagen. Er redet gerne und hat eine direkte Art. Wenn von hinten nicht viel Resonanz kommt, schneidet er einfach das nächste Thema an. Zum Beispiel: „Ich will mit euch über Wunder sprechen.“

Er reicht drei Steine nach hinten, ein schweres Stück Granit, einen Feuerstein mit scharfen Kanten und einen rauen Sandstein. Während der Jeep über Wurzeln und Schlaglöcher ruckelt, geht es im Auto um das Alter der Erde (4,4 Milliarden Jahre) und den Urknall. Darum, wie schnell Erdplatten wandern (so schnell, wie Fingernägel wachsen) und wie jung Rügen ist (10.000 Jahre).

Auf dem Beifahrersitz liegen ein paar laminierte Karten. Eine von ihnen hält Florian hoch, darauf sehr viel Schwarz und ein winziger heller Fleck. „Das ist die Erde vom Mars aus gesehen“. Das Wunder, über das er sprechen will.

Vielleicht liegt das Erfolgsrezept seiner Inseltouren darin, dass Schröder nicht nur Vogel- und Gesteinsarten zeigt, sondern immer den direkten Draht zu den Emotionen seiner Mitfahrer sucht. Maxi und Martin sind sichtlich berührt.

Mit Abwechslung die Insel selbst entdecken

Als der Geländewagen das erste Mal an der Küste zum Stehen kommt, ist Putbus nur fünfzehn Kilometer Luftlinie entfernt – und gefühlt Lichtjahre. Das Meer tut sein Bestes, um die Insel kleiner zu machen. In Strandnähe ist das Wasser gelb von dem mitgerissenen Sand. Die Wellen sind für den Greifswalder Bodden, eine von der offenen Ostsee abgetrennte Lagune, ungewöhnlich hoch. Weißer Schaum fliegt über den Spülsaum. „Alle reden vom Klimawandel, aber wenn man hier steht und sieht, wie sich das Wasser das Land holt, wird er real“, sagt Florian.

Auf seinen Touren wechseln sich kurze Strecken im Jeep mit Wanderungen ab. Immer mal wieder lässt er seine Gäste auch ein Stück alleine gehen. Um ihnen das Gefühl zu geben, dass sie selbst etwas entdecken.

Martin und Maxi sind erst seit zwei Tagen auf Rügen, bisher haben sie von der Insel noch nicht viel mehr als die aufgeräumte Binzer Strandpromenade gesehen, die auch Ende Oktober noch voller Touristen ist. Jetzt laufen sie los in den Wind, erst zögernd, dann immer zügiger. Der Wanderweg führt parallel zur Küste und ist immer wieder knöchelhoch vom Wasser überspült. Keine anderen Menschen sind in Sicht, der Jeep ist längst weg.

Maxi erzählt, dass sie auch zuhause immer mal wieder etwas Draußen unternehmen, an den Wochenenden Motorrad fahren. „Aber das hier, das ist schon etwas ganz Besonderes.“ Der Sturm ist überwältigend, zu laut um sich zu unterhalten. Der Wind dringt in Ohren und Nase, die nassen Füße werden kalt. Später, im Jeep pustet die Standheizung sie wieder trockener.

Manche Gäste weinen, viele kommen wieder

Florian zeigt Graureiher und Seeadler, hält für ein Rotkehlchen an, das auf der Straße sitzt. Er redet ununterbrochen, erzählt von den ersten Siedlern, den unterschiedlichen Möglichkeiten, Seegras zu nutzen, von der Insel im Zweiten Weltkrieg. „Die Feinjustierung macht mir Spaß“, sagt er, „Herauszufinden, was die Leute interessiert.“ Jede Fahrt sei anders.

Die Felder rechts und links der Alleen finden kaum ein Ende vor dem Horizont. Florian spricht über die industrielle Landwirtschaft, die Gülle im Grundwasser und im Bodden, das Artensterben. Maxi und Martin nicken. Klar, kennen sie alles. Aber hier, mitten in der Natur, kommt die Botschaft anders an.

Die globalen Probleme könnten ein Stimmungskiller sein, doch Schröder wählt die Dosis richtig. Vielleicht bleibt deshalb am Ende des Tages kein Frust, sondern häufig ein Veränderungsimpuls übrig. Eines der schönsten Komplimente, das er einmal bekommen hat: „Nach der Tour hat die Umgebung für mich geleuchtet.“

Manchmal beginnen Gäste auf einer Fahrt zu weinen. Andere denken laut darüber nach, ihr Leben zu verändern. Viele kommen ein zweites oder drittes Mal.

Umweltbildung im Geländewagen?

Das Mittagessen gibt es am Strand, im Windschatten, in dem man immer noch die Decken festhalten muss, damit sie nicht wegfliegen. Neben einem Strauch, an dem noch ein paar verschrumpelte Hagebutten hängen, hat Florian den Picknicktisch gedeckt. Zwei große Thermoskannen mit Tee und Kaffee, Brot, Apfelkuchen, den er am Vorabend selbst gebacken hat, Brotaufstriche, ein Ei in einer Serviette, Käse und Marmelade. Danach gibt es wieder eine Wanderung.

Florian fährt voraus, will Maxi und Martin später an der anderen Seite des Küstenpfads abholen. Der schmale Wanderweg führt durch ein dichtes Wäldchen, dessen Kiefern noch nach dem vergangenen Sommer riechen. Maxi bleibt stehen: „Da, ein Hirsch!“ Ein paar Minuten stehen sie und Martin schweigend da, fast schon andächtig und warten, dass das große Tier wieder im Wald verschwindet.

Auf der nächsten Fahrt sitzen die beiden Gäste oben auf dem Dach des Wagens. Für Martin ist das „der zweitschönste Moment der Tour“. Da oben ist es zwar eisig kalt, fühlt sich aber so an, als säße man auf einem schaukelnden Rücken eines Elefanten. „Das Dach ist immer ein Highlight“, sagt Schröder. „Erstaunlich, was es ausmacht, wenn kein Glas mehr zwischen dir und der Natur ist.“

Ist das nicht ein Widerspruch, Umweltbildung im Geländewagen? Schon, sagt der Unternehmer. Deshalb pflanzt er für jede Tour einen Baum in einem Dauerwald in Vorpommern.

Aus Fremden wird eine kleine Gemeinschaft

Ein wenig später schickt Schröder seine Gäste allein auf ein 30 Meter hohes Kliff. Das ist abgesprochen: Martin will Maxi einen Heiratsantrag machen. Florian Schröder hat dafür die Steilküste ausgesucht. Er wartet im Auto, vor sich die aufgewühlte Ostsee.

Während seines Geographie-Studiums hat er mehr Zeit draußen als im Hörsaal verbracht – und die Vorlesungen irgendwann ganz geschmissen. Die Idee für sein „Unternehmen Natur“ hat er von einem ähnlichen Anbieter übernommen; dessen Konzept aber verändert und auf die Naturpädagogik zugespitzt. „Eine beglückendere Arbeit kann ich mir nicht vorstellen. Ich merke, wie dankbar die Leute mir für diese Erfahrungen sind.“

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Was die Natur bewegen kann, belegen längst Studien. Sie entspannt, fördert Kreativität. Kranke, die vor ihrem Fenster einen Baum sehen, werden schneller gesund. Menschen, die in der Nähe von Grünanlagen leben, sind glücklicher, als die von Beton umgebenen.

Martin klopft auf die Windschutzscheibe. Er strahlt. „Sie hat Ja gesagt!“ – „Dann ist ja gut“, sagt Schröder, „wäre sonst eine ungemütliche Restfahrt geworden.“ Spätestens jetzt ist aus den Fremden vom Morgen eine kleine Gemeinschaft geworden.

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