Cradle-to-Cradle-Mode
Ein Plädoyer für Polyester
3 minuten
9 December 2017
Titelbild: Igor Ovsyannykov/Unsplash
Ist Polyester wirklich so schlimm und umweltschädlich, wie oft behauptet wird? Mona Ohlendorf sagt: ganz und gar nicht
3 minuten
9 December 2017
Ach, diese Kunstfasern, was können wir nicht alles daraus machen: knitterfreie Hosen und Oberhemden, seidige Kleider und Blusen, extrem elastische Sport- und Swimwear, Lederimitat, warme Steppjacken und fauschige Strickcardigans. Und Hand aufs Herz, wer will noch ernsthaft mit einer schweren Outdoorjacke aus gewachster Baumwolle auf Tour gehen, wenn die moderne Kunstfaser-Alternative so viel praktischer, leichter und haltbarer ist?
Doch wir stecken in einem Dilemma, haben wir nicht dogmatisch gelernt, dass „künstlich“ nicht nachhaltig sein kann? Dass Kunststoffe gefährliche Weichmacher enthalten? Dass eben diese Kunststoffe Meere, Böden und Lebewesen verseuchen? Dass wir sie nie mehr loswerden, weil sie biologisch nicht abbaubar sind? Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, werden Kunstfasern aus Erdöl hergestellt. Diese endliche Ressource, deren Gewinnung uns Kopf und Kragen kostet, die Wirtschaft und Politik korrumpiert, die materialisierte Antithese zu fair und zukunftsorientiert.
Was machen wir also? Finger weg vom „Polydreck“ und „back to the roots“? Lieber Baumwolle statt Synthetik? Oder noch besser Hanf? Aber was ist dann mit Kleidung aus recycelten PET-Flaschen? Die ist auch aus Erdöl und verrottet genauso wenig – ist aber ein Recyclingprodukt und Recycling ist doch gut, oder etwa nicht? Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es leider nicht, denn wir sprechen über äußerst komplexe Systeme und Zusammenhänge, die sich nicht mit pauschalen Faustregeln bewerten lassen.
Kunstfasern wie Polyester sind ressourcenschonend
Kunstfasern decken heute 55 Prozent des Weltfaserbedarfs. Realistisch betrachtet kann diese Nachfrage nicht über nachwachsende Rohstoffe wie Baumwolle, Hanf oder Flachs gedeckt werden. Zum einen, weil viele der hoch entwickelten Fasereigenschaften nicht auf Grundlage von Pfanzenfasern generierbar sind. Zum anderen würden die dafür nötigen Anbauflächen und Wassergaben die Lebensmittelproduktion und die Trinkwasserversorgung endgültig zum Erliegen bringen. Für die Herstellung einer Tonne Polyester wird nämlich in der Tat reichlich Energie benötigt, jedoch kein Ackerland, keine Düngemittel und weniger als ein Prozent des Wasserbedarfs, der für die Produktion der gleichen Menge Baumwolle nötig wäre. Das Schadstoffrisiko von Kunstfaserbekleidung ist genauso hoch oder gering wie bei jedem anderen Textil.
Auch für Kunstfasern gibt es sichere und unbedenkliche Ausrüstungen, Prozess- und Färbechemikalien. Und genau wie bei Baumwollprodukten liegt es in der Verantwortung der Hersteller, hier sichere Substanzen und Rezepturen auszuwählen. Äquivalent zum GOTS (Global Organic Textil Standard) kann beispielweise über „Blue Sign“ die Produktsicherheit von Kunstfaserprodukten hinsichtlich der Inhaltsstoffe definiert, geprüft und zertifziert werden. Kunstfasern benötigen in der Anwendung deutlich geringere Waschtemperaturen, weniger Wasser und weniger Waschmittel als Baumwollprodukte.
Da der ökologische Fußabdruck eines durchschnittlichen T-Shirts zu etwa 30 Prozent in dieser Gebrauchsphase bestimmt wird, sind ressourcenarme Pfegeeigenschaften ein zentraler Nachhaltigkeitsfaktor. Etwa 0,8 Prozent des jährlich weltweit geförderten Erdöls werden für die Erzeugung textiler Fasern beansprucht – 90 Prozent des jährlich weltweit geförderten Erdöls werden für die Energiegewinnung verbraucht.
Wir müssen umdenken
Wie steht es also mit der Nachhaltigkeit? Müssen wir uns von den Kunstfasern oder vielmehr von unseren Nachhaltigkeits-Dogmen verabschieden? Ich plädiere aufrichtig für letzteres, denn was wir brauchen, sind keine romantischen Ökoklischees oder immer gleiche Antworten. Vielmehr brauchen wir vor allem Offenheit, um Zukunftspotenziale zu erkennen und nutzbar zu machen. Wechselt man in diesem Sinne die Perspektive, offenbart sich das tragfähigste Argument für synthetische Fasern hinsichtlich einer intelligenten, nachhaltigen Entwicklung: Kunstfasern lassen sich hochwertig recyceln, nahezu ohne Qualitätsverlust und über zahlreiche Produktzyklen.
Sie sind optimal geeignet für Material- und Stoffkreisläufe, denn konventionelle Kunststoffe sind nicht biologisch abbaubar und deshalb extrem langlebig. Langlebigkeit ist die Voraussetzung für langfristige Materialverwertung – und ein ganz klassischer Nachhaltigkeits-Aspekt. Was es dazu braucht, sind Produktentwickler, die eine hochwertige Recyclingfähigkeit ihrer Produkte in der Konzeptionsphase mitdenken. Die Materialien und Additive sicher und für weitere Nutzungsphasen optimiert auswählen.
Es braucht transparente Lieferketten und Kompositionen, Markierungsoptionen und zirkuläre Stoffströme, welche die so gestalteten Produkte hochwertigen Aufbereitungsprozessen zuführen. Mit einem solchen System werden einmal gewonnene Rohstoffe langfristig nutzbar, was den Bedarf an neuem Rohstoff exponentiell verringert. Die damit verbundene Aufwertung von Kunststoffprodukten als hochwertige Rohstoffquelle, löst gleichfalls das Problem der Verschmutzung natürlicher Lebensräume, denn Wertstoffe lassen sich besser verkaufen, als achtlos im Meer entsorgen.
Nicht das Material ist das Problem, sondern wir
Schaut man zu den Unternehmen Patagonia, Vaude oder Puya, findet man valide Geschäftsmodelle, die genau diese Kreislaufführung von Kunststoffen in den Fokus ihrer Produktentwicklung und Innovation stellen. In der Mode engagieren sich Gestalter wie Ina Budde und das Label Jan ̓n June, die Kollektionen und Umsetzungstools für kreislauffähige Designs entwickeln. In der Faserproduktion innovieren Unternehmen im Bereich Polymer-Recycling.
Für die Herstellung von „Econyl“, einem Polyamid-Garn der Firma Aquafill, werden Fischernetze aus den Ozeanen geborgen und zu hochwertigem neuen Rohstoff aufbereitet. Diese eignen sich unter anderem ausgezeichnet für die Produktion von Swimwear – womit sich auf besonders hübsche Weise ein symbolischer Kreis schießt. Problematisch ist also weniger das Material, als unser Umgang damit.
Denn unsere Systeme sind auf Ressourcenverbrauch und nicht auf Ressourcenerhalt ausgerichtet. Noch werden kaum Produkte für hochwertiges Recycling gestaltet. Noch fehlt es an Transparenz und Infrastruktur. Also brauchen wir mehr Innovatoren, mehr Unterstützung, neue Geschäftsmodelle und Produkte und vor allem mehr Offenheit und Vision, um unsere Stoffströme zukünftig in vitale, sichere Kreisläufe umzugestalten
Dieser Artikel erschien zuerst im Noveaux Magazin.