TEXT
Eike Wenzel , Oliver Dziemba
Titelgeschichte: Megatrends
Trends der Zukunft: Neo-Urbanisierung und Familie 2.0
Lesezeit:
5 minuten
5 minuten
19 January 2016
Neues Zusammenleben: Familien arrangieren sich künftig viel flexibler – auch mit Freunden, Nachbarn und Ex-Partnern
Lesezeit:
5 minuten
5 minuten
19 January 2016
Wie leben und arbeiten wir im Jahr 2050? Zukunftsforscher Eike Wenzel erklärt, welche Megatrends die Welt verändern – hier beschäftigt er sich mit der Neo-Urbanisierung und der Familie 2.0
Neo-Urbanisierung
Bis 2050 leben fast 70 Prozent aller Menschen in Städten. Das kann nur gelingen, wenn urbane Ballungsräume grüner werden. In technologisch versierten Smart Cities ist vieles vernetzt, Elektrofahrzeuge dominieren die Straßen.
Vor mehr als 10 000 Jahren entstand die Landwirtschaft. Stadt und Land und mit ihnen urbane Zonen und Felder, auf denen Pflanzen und Vieh gezüchtet wurden, entwickelten sich von da an zu getrennten Bereichen. Mit deutlich sichtbaren Folgen: Seit 2008 leben mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land, bis 2050 zieht es fast 70 Prozent der Weltbevölkerung in urbane Regionen. China zählt rund 780 Millionen Städter, jährlich strömen 200 000 neue Bewohner in die Megastädte des Landes.
Diese Trennung könnte – angetrieben durch Vertical Farming und dezentrale Energieversorgung (siehe „Klimawandel“ und „Dezentralisierung“) – bald wieder aufgehoben werden. Visionäre Städtebauprojekte zeigen, dass das Zusammenwachsen von Stadt und Land keine Utopie mehr ist: In Lausanne in der Schweiz ist das 36-stöckige, mit 100 Zedern, 6000 Sträuchern und 18 000 Pflanzen begrünte Hochhaus „Tour des Cèdres“ geplant. In Shenzhen in China soll das Hochhaus „Asian Cairns“ das Platzproblem lösen und den Bewohnern die Chance bieten, Gemüse anzubauen. Die Vision ist eine hyperlokale Landwirtschaft: Landbau und Konsum, Produktion und Verbrauch von Lebensmitteln sollen an einem Ort stattfinden.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird es 2030 weltweit 41 Megastädte geben, Städte also, in denen mehr als zehn Millionen Menschen leben. Weltweit leben schon heute mehr als 3,9 der 7,2 Milliarden Menschen in urbanen Räumen. Mit diesem rasanten Anstieg nimmt auch die Bedeutung von Städten als Wirtschafts- und Lebensraum weiter zu. Laut dem „Global Metro Monitor“ sorgen die 300 wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Städte für fast die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Ein Drittel dieser Städte gehört zu den Wachstumstreibern ihrer jeweiligen Länder.
Dass Städte – und nicht Staaten – die Kraftzentren der Zukunft sind, lässt sich mit einer vom „Wall Street Journal“ im Jahr 2012 durchgeführten Untersuchung anschaulich darstellen: Wenn New York City ein Land wäre, dann wäre die Stadt gemessen am Bruttoinlandsprodukt die sechstgrößte Ökonomie Europas. Kurz hinter Spanien und weit vor den Niederlanden, Schweden und Österreich. Laut Forscher Richard Florida wächst New Yorks Ökonomie in Zukunft schneller als die Wirtschaft in Europa.
Zum Megatrend Neo-Urbanisierung gehört auch der Wandel von Städten zu „Smart Cities“. Städte können in Zukunft durch kluges Zusammenspiel von digitalen Technologien lebenswerter und vor allem umweltfreundlicher werden. Wie etwa die „Fujisawa Sustainable Smart Town“, die erste Ökostadt Japans, die vom Elektronikhersteller Panasonic ausgestattet wird. Die Smart Town, die Ende 2018 bezugsfertig sein soll, soll zu 100 Prozent nachhaltig betrieben werden und autark Energie erzeugen, speichern und verwalten. 1000 Haushalte, 3000 Menschen und öffentliche Einrichtungen sollen hier Platz finden. Für die Fortbewegung stehen gemeinschaftlich nutzbare und überall wieder aufladbare Elektrofahrräder und -Autos zur Verfügung. Das Beratungsunternehmen Frost & Sullivan schätzt das weltweite Umsatzpotenzial von „Smart Cities“ allein bis 2020 auf 1,5 Billionen US-Dollar.
Auch die Idee des „smarten“ Dorflebens ist keine Fantasie mehr. Das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) forscht in dem Projekt „Smart Rural Areas“ derzeit zur digitalen Vernetzung des ländlichen Raums. Sie soll den demografischen Wandel stoppen und das Leben auf dem Land verbessern. Etwa durch digitale Fernüberwachung von Pflegebedürftigen, vernetzte Mobilitätsservices oder die bessere Warenlogistik von Einzelhändlern. Zum Testen haben sich die Forscher Kaiserslautern und Teile der Westpfalz ausgesucht. Hier sollen praxistaugliche Lösungen erprobt werden, die das Leben mit Informations- und Kommunikationstechnologie auf dem Land lebenswerter machen und zu den urbanen Lebenswelten aufschließen lassen.
Familie 2.0
Die Familie erlebt eine Renaissance – das Bedürfnis nach verbindlichen Beziehungen und mehr Gemeinsinn steigt. Allerdings setzen sich die neuen Familien anders zusammen, und auch die Rollenmuster ändern sich.
Seit einigen Jahren beobachten wir einen Wertewandel. Ganz gleich, ob jung oder alt: Familie steht bei den Deutschen wieder hoch im Kurs. Die dominante Familienform ist zwar noch die klassische Ehe, doch sie ist schon lange keine Pflicht mehr. Die Familie 2.0 ersetzt das starre Gebilde der Normalfamilie durch ein netzwerkartiges und flexibles Versorgungs- und Beziehungsmodell. Nicht die Familie an sich ist also vom Aussterben bedroht – wie lange befürchtet wurde –, sondern die traditionell-bürgerliche Vorstellung davon.
In dieser neuen Großfamilie führen veränderte Rollenmuster zu neuen Beziehungen: Väter, die nicht mehr nur die Erwerbskarriere kennen – sondern die Kinder miterziehen; Mütter, die sich nicht auf die Rolle der Hausfrau reduzieren lassen – sondern auch arbeiten; Großeltern, die eine sinngebende Rolle in dieser Solidargemeinschaft spielen. Und schließlich Kinder, die im Alltag nicht auf ihre zeitknappen Eltern angewiesen sind.
Durch die gestiegene Zahl der Alleinerziehenden und nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften kann Familie 2.0 aber auch Konstellationen hervorbringen, die den traditionellen Vorstellungen noch mehr entsagen – wenn etwa Ex-Familienmitglieder, Ex-Partner oder befreundete Familien einbezogen werden.
Immer mehr Lebensstile orientieren sich daran, dass die alten Systeme der sozialen Marktwirtschaft – Rente, Gesundheitsversorgung, Sozialversicherung – nicht mehr funktionieren. Das verändert Lebensentwürfe und Familien radikal. Was als Zerfall wahrgenommen wurde, ist die Individualisierung der Lebensstile, durch die sich in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren immer neue Lebensformen und vielfältigere Biografien ergaben. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der biografischen Befreiung. Menschen folgen heute nicht mehr – und in Zukunft noch weniger – schablonenartig den Mustern der Eltern und Großeltern.
Wichtig: Das Leben im familiären Verbund – in welchem auch immer – ist nur scheinbar unverbindlicher geworden. Jede Lebensphase kann neue Familienformen hervorbringen, zu denen sich die Mitglieder verpflichtet fühlen. In der EU und in den USA steigt seit dem Jahr 2000 die Zahl der Menschen, die in Mehrgenerationenfamilien leben. In den USA leben laut dem Pew Research Center 39 Prozent der 18- bis 34-Jährigen noch oder wieder bei den Eltern, oft aus finanziellen Gründen. Vom familiären Zusammensein profitieren alle Beteiligten und es gehört für jung und alt gleichermaßen zu einer wichtigen Bedingung ihres Seins. Für mehr als 55 Millionen Deutsche ist es laut IFD Allensbach besonders wichtig, für die Familie da zu sein und sich für sie einzusetzen. Eine Zahl, die seit Jahren und trotz neuer Familienformen konstant geblieben ist.
Für die Wirtschaft ist die Familie 2.0 ebenfalls interessant. Sie gilt durch ihren generationsübergreifenden Gemeinsinn als eine der wichtigsten Zielgruppen. Familien haben in Deutschland gemeinsam mit Senioren die beste Konsumlaune. Laut den Marktforschern von Valid Research wollen Familien vor Weihnachten im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent mehr ausgeben. Wie das Statistische Bundesamt ausrechnet, sind innerhalb von fünf Jahren die Ausgaben bei Familien mit einem bis drei Kindern um bis zu etwa 9 Prozent angestiegen. Hinzugerechnet werden muss die Konsumlaune und Kaufkraft der Großeltern. In den USA verreisen heute bereits rund 30 Prozent der Familien als Mehrgenerationenfamilie. Und: Sie verreisen häufiger und geben durchschnittlich 1000 US-Dollar mehr pro Jahr aus als andere Reisende. In Deutschland verreisen laut einer Umfrage von FeWo-direkt, einem Online-Vermittler von Ferienwohnungen, bereits sieben von zehn Familien mit vier oder mehr Mitgliedern.
Während sich die Familie 1.0 geräuschlos in das bestehende Wertesystem der Gesellschaft einfügte, steht die Familie 2.0 für eine Lebensstilrevolution, die sich fortlaufend den Unwägbarkeiten des modernen Zeitalters anpasst. Politik, Märkte und Unternehmen stellt das vor die Aufgabe, in Zukunft Antworten für die neuen Bedürfnisse parat zu haben. Das Lebensmodell der Familie 2.0 kann sich bis 2030 als eine Produktivitäts- und Zeitmaschine herausstellen, in der durch das Zusammenspiel mehrerer Generationen Zeit gewonnen und geschenkt wird. Zeit, die sinnstiftend für die Gesellschaft eingesetzt wird und die Familie 2.0 zum Mittelpunkt eines neuen Gesellschaftsentwurfs machen kann.