Zukunftsforschung

Trends der Zukunft: Klimawandel und Dezentralisierung

Lesezeit:
5 minuten

19 January 2016

Dezentrale Produktion: Verbraucher können jederzeit in die individualisierte Herstellung eingreifen

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19 January 2016
Wie leben und arbeiten wir im Jahr 2050? Zukunftsforscher Eike Wenzel erklärt, welche Megatrends die Welt verändern – hier beschäftigt er sich mit dem Klimawandel und der Dezentralisierung

Klimawandel

Die Landwirtschaft verbraucht enorme Ressourcen und beschleunigt den Klimawandel. Konzepte wie die Vertikale Landwirtschaft – Massenproduktion in mehrstöckigen Gewächshäusern in der Stadt – und Hydrokulturen sollen diesen Wandel aufhalten.

Die landwirtschaftliche Produktion ist laut Klimabericht der Europäischen Kommission für neun Prozent des Ausstoßes von Klimagasen in Europa verantwortlich. Weltweit spricht der WWF von 14 Prozent. Um im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen zu ernähren, bräuchte es – nur für die Ernährung – zusätzliche landwirtschaftliche Flächen von 109 Millionen Hektar. Das entspricht 20 Prozent mehr Land als Brasilien heute für die Landwirtschaft nutzen kann. Ein weiterer Flächenausbau in dieser Größenordnung ist ökologisch fragwürdig.

Die Zukunftsformel muss lauten, den Verbrauch natürlicher Ressourcen vom Konsum und der Wertschöpfung abzukoppeln. Neue Technologien machen das möglich oder schränken den Verbrauch von Ressourcen ein. Es sind Konzepte wie die urbane Landwirtschaft oder Aquakulturen, also kontrollierte Fischzucht statt Fischfang in überfischten Gewässern. Aber auch eine stärkere Technisierung der Pflanzen- und Viehzucht kann eine Wende einleiten.

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Das sogenannte Vertical Farming basiert auf Kreislaufwirtschaft (jeder Rohstoff hat mehrere Lebenszyklen) und Hydrokulturen (Anpflanzung in wässriger Lösung statt Bodenverbrauch), bei der Ressourcen sparsamer eingesetzt werden. In mehrstöckigen Gewächshäusern lassen sich Früchte, Gemüse, Pilze und Algen ganzjährig anbauen – und das auf einer wesentlich kleineren Fläche: Ein 30-stöckiges Gebäude mit einer Nutzfläche von zwei Hektar liefert die gleichen Erträge wie die Außenbewirtschaftung auf 970 Hektar. Aufgrund des lokalen Vertriebs der Lebensmittel und einer besseren Abstimmung der Bedürfnisse der Verbraucher besteht zudem die Hoffnung, dass wesentlich weniger Lebensmittel weggeworfen werden. In der herkömmlichen Landwirtschaft verderben, so haben es Untersuchungen gezeigt, bis zu 30 Prozent der Ernte.

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Konzerne wie Panasonic und Philips entwickeln das Lichtkonzept für einen landwirtschaftlichen Aufbruch, der den Klimawandel entscheidend bremsen soll. LEDs zaubern in Gewächshochhäusern von Start-ups wie Euro Fresh, Farms oder Farmed Here rotes und blaues Licht mit der richtigen Wellenlänge, um Gemüse und Fisch zu züchten. Vor allem Gemüse lässt sich unter dieser Lichtregie vier- bis sechsmal effizienter ziehen als auf dem Acker. Das Baseler Start-up Urban Farmers züchtet Buntbarsche auf dem Hochhausdach und versteht sich nicht als Landwirtschaftsbetrieb, sondern als Technologieentwickler und -dienstleister.

Panik ist angesichts dieser weiteren Technisierung von Lebensmitteln fehl am Platz. Laut der Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) brauchen Landwirte bedingt durch die Modernisierungszyklen heute weltweit 68 Prozent weniger Land, um die gleiche Ernte wie vor 50 Jahren zu produzieren. Aber nach wie vor ist die Landwirtschaft ineffizient: 70 Prozent des auf der Erde nutzbaren Trinkwassers und ein Drittel der nutzbaren Fläche dienen der Herstellung von Nahrungsmitteln, 70 Prozent davon entfällt auf die Fleischproduktion. 50 Prozent der „Verabreichung“ von Antibiotika geht in die Landwirtschaft.

Ray Kurzweil, Cheftechnologe von Google, geht davon aus, dass die 2020er-Jahre eine Ära der dezentralen Nahrungsmittelproduktion und des Vertical Farmings sein werden. Hydrokulturen im Gewächshaus werden Teil eines landwirtschaftlichen Internets der Dinge – Sensoren überwachen den Stickstoffbedarf von Pflanzen und passen die Düngemenge an. Das gestattet es den Menschen, ihre Lebensmittel dort zu produzieren, wo sie leben.

Wegfallende Transportkosten und ein wesentlich geringerer CO2-Ausstoß können von 2020 an den Klimawandel verlangsamen, wenn jede größere Stadt eigene Vertical-Farming-Projekte betreibt. Das Unternehmen Farmed Here, das nahe Chicago ein 9000 Quadratmeter großes vertikales Gewächshaus unterhält, beliefert 50 Filialen des Ökosupermarktes Whole Foods Market. Wir werden künftig auch über Fleisch und Gemüse aus dem Labor reden. Bislang zeigt sich jedoch, dass Biotechnologie im Essen für die Menschen weltweit ein Tabu ist.

Dezentralisierung

Künftig sind viele Dienstleistungen unabhängig von Zeit und Raum zu haben – das Internet macht es möglich. Wenn Elektronik und Informationstechnologie klug verknüpft sind, wird die Herstellung individualisierter Produkte möglich.

Dezentralisierung hat den Lebensstil von allen grundlegend verändert, ohne dass es uns bewusst geworden wäre. Früher gingen wir zur Bank – jetzt überweisen wir Geld per Internet. In den 60er-Jahren ging man zum Telefonieren ins Postamt, jetzt besitzt jeder ein Smartphone. Bis vor Kurzem mussten sich Dialyse-Patienten an Geräte in Kliniken anschließen – mittlerweile ist Dialyse in den eigenen vier Wänden möglich.

Durch das 20. Jahrhundert hindurch haben wir daran gearbeitet, aus zentralen Dienstleistungen dezentral organisierte Prozesse zu machen. Künftig bedeutet Dezentralisierung, dass wir einen neu gestalteten Pakt zwischen Konsument und Produzent erleben: Regionale Produktion wird zum wichtigsten Merkmal.

Beim Lebensmittelkonsum hat „Regional“ das Attribut „Bio“ bereits abgelöst. Laut einer Studie der Managementberatung A.T. Kearney ist bei der Hälfte der Deutschen jedes fünfte gekaufte Produkt ein regionales Nahrungsmittel – nur jeder zehnte Artikel ist Bio. Eine Befragung der Uni Kassel ergab, dass drei Viertel der Teilnehmer das regionale Lebensmittel bevorzugen. Die Motive für den Kauf: Transportwege (95 Prozent), Unterstützung der heimischen Wirtschaft (90 Prozent) Umweltfreundlichkeit (63 Prozent) und Frische (62 Prozent). Passend dazu geben 95 Prozent der Deutschen an, ihre Lebensmittel direkt vor Ort oder in der unmittelbaren Umgebung einzukaufen. Noch wichtiger: 85 Prozent der Bevölkerung beurteilen die Einkaufsmöglichkeiten in ihrem Wohnort als gut oder sehr gut.

Für Supermärkte ist es künftig existenzsichernd, nicht nur ihre weltweiten Logistikketten zu verbessern, sondern Nahrungsmittelproduzenten aus der unmittelbaren Umgebung ihrer Kunden Zugang zum Markt zu verschaffen. Nebenbei wird die Idee des Supermarkts korrigiert: Nicht mehr nur der Preis und die Leistung stehen im Vordergrund, sondern auch die Qualität, das Vertrauen und der Genuss.

Industrie und Einzelhandel, Energie- und Mobilitätsdienstleister freuen sich nicht über die fortschreitende Dezentralisierung, denn die Zeiten der standardisierten Versorgung sind vorbei. Dahinter steckt die Sehnsucht vieler Menschen, ihr Leben – und damit die Grundversorgung mit Energie, Mobilität und Nahrung – autonom zu gestalten. Zu den Anbietern dieser dezentralisierten Dienstleistungen gehören Unternehmen wie Netflix und Spotify, aber auch Firmen wie Amazon oder Zalando.

Dezentralisierung ist eine Quintessenz aus vielen wichtigen Entwicklungen der vergangenen Jahre: Dezentralisierung und Digitalisierung sorgen dafür, dass viele Dienstleistungen unabhängig von Zeit und Raum nutzbar sind. Dieses Konzept steckt auch hinter der Idee „Industrie 4.0“, die mit Elektronik und IT die Automatisierung der Produktion voranbringen will. Wenn in zehn Jahren fast jede Maschine nicht mehr nur mit simpel gestrickter Mechanik arbeitet, sondern ein mit sensorischer Technik ausgestattetes, intelligentes System ist, können Produkte ungleich günstiger, ökologischer und individualisierter hergestellt werden. Geräte und Maschinenteile lassen sich dann deutlich flexibler und nahezu wartungsfrei benutzen. Die Energie kommt aus der unmittelbaren Umgebung der Maschine, auch Informationen sind direkt vor Ort nutzbar, sodass Anlagen im laufenden Betrieb umgebaut werden können. Die Utopie: Das Unternehmen produziert einen für mich individualisierten Gegenstand. Ich kann jeden Prozess via Smartphone einsehen und den Ablauf stoppen, wenn mir die Farbe meines Produkts nicht gefällt.

Der Trend zur Dezentralisierung lässt sich vielfach beobachten, in dem „energie-autarken“ Dorf Feldheim in Brandenburg ebenso wie bei der digitalen Währung Bitcoin. In Feldheim steht Dezentralisierung für Wind Sonne, Mais und Gülle statt Atomkraft, Kohle und Öl. Bei Bitcoin hat jeder Nutzer Zugang zum Quellcode, sodass alle Bezahlvorgänge abgeschlossen werden können, ohne dass man auf einen Dritten, etwa eine Zentralbank, vertrauen muss. Dezentralisierung wird deshalb als konkrete Utopie verstanden, ein selbstbestimmtes Leben in die Tat umzusetzen.

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Visionäre, die den dezentralen Charakter der digital-nachhaltigen Ära verstehen, werden nicht nur Produkte oder Dienstleistungen verkaufen. Sie werden den Einstieg in einen exzentrischen Lebensstil anbieten. SMA aus Kassel gehört dazu. Das Unternehmen verkauft eigentlich bloß Wechselrichter, die den Strom aus Solarmodulen in einen Stromkreislauf einspeisen. Kürzlich hat die US-Tochter von SMA jedoch mit dem Unternehmen Farm from a Box eine „netz-unabhängige Komplettlösung für die Mikrolandwirtschaft“ vorgestellt.

Als Basis dient ein bis zu zwölf Meter langer Container, der auf einem Feld aufgestellt wird, und der mit einer Photovoltaikanlage auf seinem Dach Strom erzeugt. Mitgeliefert werden auch ein Bewässerungssystem, Software für die Wetterberechnung und die Bodenanalyse, Zyklen-Batterien für die Energiespeicherung sowie ein 3000-Watt-Generator als Unterstützung an sonnenarmen Tagen. Das System versorgt laut Hersteller bis zu 150 Menschen mit Energie und ist auf einen Hektar Land und den Anbau eines breiten Spektrums von Nutzpflanzen ausgelegt. Gedacht ist es für Krisenregionen und Flüchtlingslager, damit Menschen sich selbst versorgen. Einsetzbar ist das System aber auch für Selbermacher in aller Welt.

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