Zeitumstellung

Die Verzögerung der Zeit

Lesezeit:
4 minuten

4 August 2015

Titelbild: Eder Pozo Pérez / Unsplash

Was geschieht, wenn wir entschleunigen? Wie wichtig ist es, Zeit zu haben – für Nichts?

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4 minuten

4 August 2015
Was geschieht, wenn wir entschleunigen? Wie wichtig ist es, Zeit zu haben – für Nichts? Martin Liebmann ist Vorsitzender des Vereins zur Verzögerung der Zeit. Im Interview erklärt er, wie wichtig unverhoffte Muße ist, warum und wie Effizienz doch sinnvoll sein kann und wie man zum Zeitverzögerer wird

Herr Liebmann, hatten Sie heute schon Zeit für sich?

Ja, wenngleich auch weniger als an normalen Tagen. Vor meinem Sommerurlaub geht es beruflich immer noch einmal recht turbulent zu. Alle wollen noch etwas von mir, weil ich im Urlaub komplett offline bin. Mein ausgiebiges Morgenritual habe ich mir aber auch heute nicht nehmen lassen. Und nachher werde ich vielleicht noch etwas Musik machen. Oder einfach nichts tun.

Man kann Sie aber schon zu einer abgemachten Uhrzeit treffen, oder?

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Selbstverständlich kann man das. Ich bin sogar ein sehr pünktlicher Mensch. Einen Sinn für Zeitverzögerung zu haben steht dazu in keinem Widerspruch. Ich nehme mir nur nicht für alles und jeden Zeit. Ich frage mich, was mir wirklich wichtig ist. Das meiste versäume ich ja sowieso.

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Was tun Sie mit der Zeit, die Sie sich selbst schaffen?

Zeit schaffen – das klingt furchtbar anstrengend. Erlauben Sie mir vorzuschlagen, die Frage etwas umzuformulieren: Was tue ich mit der Zeit, die ich mir lasse?

Ok, dann so.

Die Frage würde so angenehmer klingen, aber ich kann sie Ihnen trotzdem nicht genau beantworten, weil ich es so oft genieße, die Freiräume eben nicht zu verplanen, sondern vieles auch dem Zufall zu überlassen. Da kommt dann so einiges Schönes auf mich zu. Ob ich dann einfach am See sitze, auf der Gitarre vor mich hinklimpere, dem Brotteig beim Gehen oder meinen Kräutern beim Wachsen zusehe – das Schöne an der Muße ist ja, dass sie uns küsst, ohne uns vorher um Erlaubnis zu fragen. Sie kommt einfach so – wenn wir sie lassen.

Worum geht es bei der Verzögerung der Zeit?

Um die Frage nach einem guten Leben – individuell genauso wie kollektiv. Wer als Mensch nur noch fremdgetaktet durchs Leben hetzt, verliert sich schnell selbst. Er oder sie hat ja nicht einmal mehr Zeit, nach dem Sinn des Ganzen zu fragen – geschweige denn darüber zu reflektieren. Geschwindigkeit ohne Innehalten hindert uns daran, als selbstbestimmte Persönlichkeit mit der Welt in einen Zustand der Resonanz zu kommen. Ohne Resonanz verlieren wir unsere Beziehung zur Welt.

Und in welchem Zustand sollte diese Welt sein, zu der wir den Kontakt aufnehmen?

Einer Gesellschaft, die sich von Wettbewerb, Ökonomisierung und technischen Innovationen in den Temporausch treiben lässt, geht es ähnlich. Auf einmal werden Zahlen wichtiger als Menschen, wird Geschäft wichtiger als Gemeinschaft, wird Wachstum wichtiger als nachhaltige Qualität. Wer über die Zeit herrscht, herrscht auch über die Menschen. Ich beobachte, dass wir im Temporausch schon weite Teile unserer kollektiven Autonomie verloren haben und uns als Gesellschaft nicht einmal mehr trauen, uns Zeit für demokratische Prozesse zu nehmen.

Wie wirkt sich dies aus?

Ich fürchte verheerend. In weiten Teilen haben wir als Gesellschaft doch schon unsere Kreativität und unseren Mut verloren, ein wirklich gutes Zusammenleben zu gestalten. Damit meine ich, dass wir unser Denken aus dem Gefängnis von Zahlen, Sachzwängen und der reinen Effizienz befreien. Dass wir uns die Frage stellen, was uns wirklich wichtig ist. Und dass wir dann auch ausprobieren, wie wir das machen können. Wenn ich mir die öffentlichen Diskurse anhöre, geht es fast nur noch um Geld und um Ängste.

Was haben Sie eigentlich dagegen, Zeit effektiv zu nutzen?

An der richtigen Stelle ist gegen Effizienz überhaupt nichts einzuwenden. Jedes Unternehmen sollte sehen, wie es mit möglichst wenig Aufwand eine möglichst gute Qualität produzieren oder leisten kann. Effizienz ist das Prinzip der Wirtschaft. Effizienz ist aber nicht das Patentrezept für alle anderen Lebensbereiche. Partnerschaften, Familien, Spiritualität, Bildung, Wissenschaft, Kunst, Politik und Freizeit verraten ihre Werte, wenn sie sich dem allgemeinen Diktat der Effizienz unterwerfen. All diese Lebensbereiche sind aber fundamental für ein gutes Leben und Zusammenleben. Durch die weitgehende Ökonomisierung aller Lebensbereiche drohen diese, zu sinnlosen Hohlkörpern zu verkommen. Ohne starke, autonome Lebensbereiche, die sich in einem Prozess des Ausbalancierens bewegen, ist ein gutes Leben aus meiner Sicht aber nicht vorstellbar.

In welchem Verhältnis stehen wir zu Zeit? Und wie sollte es eigentlich sein?

Zeit ist eine Dimension, in der wir uns ständig bewegen. So wie der Raum. Während wir uns einen Raum allerdings recht gut vorstellen und ihn beschreiben können, gelingt uns das mit der Zeit nicht. Das wusste schon Augustinus. Dabei ist Zeit für die Selbstbestimmung und Freiheit der Menschen die wohl zentrale Dimension. Ich glaube, dass es deshalb ausgesprochen sinnvoll ist, sich sehr intensiv mit Zeit zu beschäftigen, sie viel stärker in den Fokus zu stellen – auch im sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Kontext. Wie es eigentlich aussehen sollte, will ich gar nicht sagen, denn es geht ja bei Zeit gerade um den Prozess und nicht um irgendeinen fixen Zustand. Was ich allerdings aus tiefster Überzeugung glaube, ist, dass die ungebremste Beschleunigung aller Lebensbereiche die Lebendigkeit selbst zerstört. Stück für Stück. Speed kills – nicht nur, wenn man mit 120 Sachen gegen einen Baum rast.

Viele Menschen haben das Gefühl, nie Zeit zu haben, immer in Zeitnot zu sein. Was würden Sie diesen Menschen raten? Welche Strategien gibt es?

Ein erster Schritt, der garantiert immer funktioniert, ist das Innehalten. Innehalten ermöglicht es uns, unseren Geist, unsere Vernunft, unsere Gefühle und unsere Kreativität zu beflügeln. Es gibt uns die Gelegenheit, mit der Welt, der Natur, den Dingen und den Menschen eine Beziehung aufzubauen, in der wir spüren und erkennen, was gut ist. Vielleicht könnte man das Muße nennen. Das ist dann aber auch schon alles, was ich an Tipps auf Lager habe. Ich halte nichts von Zeitratgebern – und rein gar nichts von ausgebufften Zeitmanagementtools. Die sind meist wie Diäten: Man stopft sich beziehungsweise seine Zeit anschließend doch nur noch voller.

Wie sind Sie denn selbst zum Zeitverzögerer geworden?

Auf einem philosophischen Symposium in einem ehemaligen Kloster, das auf einem betörend schönen Weinberg steht, begegnete ich einigen Zeitverzögererinnen und Zeitverzögerern. Deren Mischung aus kritischem Geist, philosophischer Tiefe, klarem Realitätsbezug und Humor hat mich fasziniert. Ich habe – übrigens ohne zu zögern – meine Beitrittserklärung unterschrieben.

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Und? Was hat das bei Ihnen bewirkt?

Diese Entscheidung hat mein Leben tatsächlich verändert. Der regelmäßige Austausch über die individuellen und vor allen die kollektiven, also politischen Aspekte von Zeit mit sehr unterschiedlichen Menschen hat mich als Individuum gelassener und als gesellschaftlicher Akteur noch politischer gemacht, als ich das ohnehin schon war.

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