Experiment auf dem Land

Ein Dorf, das leben will

Lesezeit:
7 minuten

24 June 2016

Titelbild: Hendrik Rauch

In Lüchow nahe Rostock wird die Vision einer lebendigen Dorfgemeinschaft geträumt

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24 June 2016
Lüchow in Mecklenburg-Vorpommern galt als Paradebeispiel dafür, wie ein beinahe totes Dorf reanimiert werden kann. Dann schloss das Land die Schule, und der Ort stand zum zweiten Mal vor dem Aus. Und heute? Ein Besuch bei Leuten, die immer noch dabei sind, ihre Vorstellung von Gemeinschaft in die Praxis zu übertragen

Wenn man ein Bild malen sollte von einem Ort, für den das Wort Idylle erfunden zu sein scheint, dann wäre Lüchow eine gute Vorlage. Da laufen Kinder singend über einen Feldweg, vorneweg schreitet ein Pferd mit einem Jungen auf dem Rücken. Im Dorf filzen ältere Menschen Wolle, eine Frau zupft sie, ein Mann taucht sie in die Seifenlauge. Nebenan stehen der Waldorf- Kindergarten, zwei Mehrgenerationenhäuser sowie ein Gemeinschaftshaus für Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen. Und an all dem schlängelt sich dekorativ die Peene vorbei, in Richtung Ostsee. Wie auf einem Gemälde.

Lüchow liegt auf der Grenze zwischen Mecklenburg und Vorpommern, etwa eine Stunde von Rostock entfernt. Es ist ein Dorf wie viele in der Gegend. Bedroht von der demografischen Entwicklung. Wer kann, zieht weg, weil die Arbeitsplätze fehlen. Auch Lüchow war da lange keine Ausnahme. Im Jahr 2000 lebten noch fünf Menschen im Ort.

Im Jahr 2000 lebten noch fünf Menschen in Lüchow – dann kam Johannes Liess

Dann kam Johannes Liess. Der Architekt aus Wien kaufte 2003 gemeinsam mit seinen Geschwistern ein Haus in Lüchow. Anfangs war es nur als Ferienwohnung gedacht, dann aber beschloss er, mit seiner Familie „hierher zu ziehen und im Urlaub zu bleiben, permanent Vacation, sozusagen“. Es ist der Traum vieler Städter: einfach raus, aus den Zwängen, dem Gestank und Lärm der Großstadt, dem Verkehr, der Hast. Den Kindern eine lebenswerte Umgebung bieten. Das Beste sei, sagte Liess: „Wir führen ein eigenverantwortliches Leben, wir gestalten unsere Umwelt nach unseren Vorstellungen. Wo kann man das schon?“

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Seine Begeisterung steckte an. Einer von Liess’ Brüdern zog ihm hinterher, Bekannte folgten, selbst Fremde, die von dem Projekt begeistert waren. Trinkwasser bekamen sie aus einem Brunnen im Nachbardorf, das Abwasser reinigten sie in einer selbstgebauten Pflanzenkläranlage, auch ihren Strom verlegten die Neu-Lüchower selbst. Sie bauten ein Gemeinschaftshaus und eine Schule, gerade sie sorgte für weiteren Zuzug. Während sich im ganzen Bundesland die Schülerzahlen halbierten, entwickelte sich Lüchow in die andere Richtung. „Man muss nur wollen“, sagte Liess selbstbewusst. Er hatte Pläne für ein Hotel, einen ökologischen Bauernhof. Ein autarkes Dorf mit Arbeitsplätzen für alle. Er schrieb ein Buch mit dem Titel „Artgerecht leben. Von einem der auszog, ein Dorf zu retten“. In der Widmung steht: „Für alle, die noch Träume haben.“ Das war der Geist, der Zuzügler aus Rostock, Mittel- und Süddeutschland verband. Bis 2011 dieser Brief kam.

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Alles lief perfekt, bis die Schule schließen musste

Das Land entzog der Schule die Betriebserlaubnis. Dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Klassen, vier Jahrgänge und 30 Schüler gab, war der Behörde egal. Offiziell hatte sie Zweifel an den Qualifikationen der beiden Lehrerinnen. Der Entscheid traf die Lüchower ins Mark. „Die Schule war das Herz des Dorfes“, sagt Ernestine Feustel-Liess, die 36-jährige Schwägerin von Johannes Liess. Sie leitet den Waldorfkindergarten, mit ihrem Mann und ihren vier Kindern ist sie vor neun Jahren nach Lüchow gezogen. Dass es dort eine Schule gab, war für sie ausschlaggebend. Wie für die meisten Zuzügler: Nach der Schließung der Schule gingen einige Familien wieder. Wer blieb, musste seine Kinder aus dem Dorf schicken. Feustel-Liess fährt ihre täglich nach Rostock.

„Erst dachten wir: Jetzt ist es vorbei! Das war zum Heulen“, sagt sie. „Wir haben dann aber ziemlich schnell entschieden, dass wir nicht den Kopf in den Sand stecken.“ Sie gründete den Verein „Das lebendige Dorf“, Träger aller künftigen Aktivitäten. Aus dem sonntäglichen Kaffeetrinken entwickelte sich das Kulturcafé, zu dem einmal im Monat Künstler von Rostock bis Berlin eingeladen werden.

Als 2012 wieder neue Leute ins Dorf zogen, war klar, dass es weiter geht. 55 Menschen leben inzwischen in Lüchow, davon 25 Kinder. Wer sie heute besucht, spürt immer noch, wie stark der Einschnitt mit der Schule nachwirkt. Am deutlichsten vielleicht bei Johannes Liess selbst. Er nutzt sein Haus nur noch als Wochenendwohnung. Auf Fragen nach dem Dorf antwortet er eher ausweichend.

Liess ist gegangen und andere sind an seine Stelle getreten

Aber es sind andere an seine Stelle getreten, die jetzt das Experiment fortführen. Die sich fragen: Wie gelingt es uns, aus einer Ansammlung von Individuen eine Gemeinschaft zu formen?

Einer von ihnen ist Nathanael Schmidhuber. Der 37-jährige Altenpfleger und Sozialpädagoge kam vor vier Jahren. Davor hatte er mit seiner Frau Sophia Warczak, einer Harfenistin, und ihren beiden Kindern ein paar Jahre in Holland gelebt und studiert. „Wir hatten in der Zeitung von dem Dorf gelesen. Als wir hierher kamen, gab es den Plan, altersgerechtes Wohnen zu verwirklichen“, sagt er. „Und das passte gut zu dem, was ich mir als Aufgabe vorstellen konnte. Ich wurde dann schnell Teil der Gruppe, die die beiden Mehrgenerationenhäuser geplant hat.“

Mittlerweile steht eines der Häuser, ein zweites ist im Bau. Schmidhuber hilft den Senioren bei der Auswahl des Pflegedienstes, macht Terminabsprachen mit Ärzten und Therapeuten. An sieben Tagen in der Woche bietet er eine Betreuung für pflegebedürftige Menschen an, ambulant oder in der Senioren-WG, die im Sommer starten soll. Filzen, Hauswirtschaft, Kochen, Singen, Gymnastik, Ausflüge. „Ich denke mir die Senioren-WG als professionelle Familie“, sagt er. „Mein Job wird es sein, sie zu organisieren.“

Schmidhuber steht in der künftigen WG-Küche, von den Wänden hängen noch Kabel. Seine Idee von betreutem Wohnen im Alter: Die Menschen sollen möglichst viel selbst entscheiden können und in den Alltag des Dorfs eingebunden sein. Zum Beispiel mit den anderen Bewohnern essen. Wer mag und sich angemeldet hat, kommt an den Werktagen zum Mittagessen ins Gemeinschaftshaus. So wird auch die Köchin der Schule weiterbeschäftigt. Heute hat sie Bratlinge, Salat, Quark und Kartoffeln gemacht. Ernestine Feustel-Liess sitzt mit am Tisch, Nathanael Schmidhuber mit seiner Familie. Die Stimmung ist ausgelassen. „Ich bin froh, dass es hier eine Gemeinschaft gibt, die aber nicht verpflichtend ist, sondern freiwillig. Davon haben wir geträumt, bevor wir hergezogen sind“, sagt Schmidhuber. Aber er sagt auch: „Manchmal wünsche ich mich irgendwo hin, wo ich nicht erst ein Café gründen muss, wenn ich einen Kaffee trinken will.“

Die Umsetzung eines lebendigen Dorflebens ist nicht einfach

Auch in Lüchow passieren die Dinge nicht einfach so, alles muss angeschoben werden. Von Menschen, die Verantwortung übernehmen. Die Vision einer lebendigen Gemeinschaft ist schnell geträumt – aber die Umsetzung nicht einfach.

Es gibt manche Enttäuschung. Wie bei Hans Hirthammer, 65. Beim Mittagessen ist er nicht dabei, obwohl er sich sehr nach Gemeinschaft sehnt. Er war 2015 einer der ersten, die in das Mehrgenerationenhaus zogen. Hirthammer kommt aus Brandenburg, er leidet an Morbus Bechterew, einer Verknöcherung des Skeletts. Oft hat er so starke Schmerzen, dass er nachts wach liegt. Dann steht er mittags gerade erst auf. Und muss es erst einmal schaffen, die Treppen hinunter zu kommen.

Das hatte ich mir anders vorgestellt“, sagt er, „hier kommt selten einfach jemand vorbei. Ich könnte Gemeinschaft haben, ja, aber nur als Teil des Dienstleistungssystems.“ Dieses System – dazu gehört auch Nathanael Schmidhubers Geschäftsmodell – ist für ihn ein rotes Tuch. Er hatte eine schwer behinderte Tochter, erzählt Hirthammer, die er bis zu ihrem Tod gepflegt hat. Nun wünscht er sich selbst etwas von der Menschlichkeit, die er für sie erkämpft hat. Er ist froh, in Lüchow zu leben, aber er mag nicht dafür bezahlen, dass ihn jemand besucht. Schmidhuber dagegen sagt: „Wir sind hier alle so beschäftigt, da ist es mit der Ehrenamtlichkeit begrenzt.“ Sich helfen, das beruht auch in Lüchow meist nur auf Gegenseitigkeit.

Sich zu helfen, beruht auch in Lüchow meist nur auf Gegenseitigkeit

Nur hat Hans Hirthammer leider das Gefühl, nichts mehr geben zu können. Man sieht also sein Zögern, als ihn die Seniorenbetreuerin Mariann Ehlers in ihrer Pause zu den anderen Senioren bittet, um gemeinsam zu singen, „Komm, lieber Mai und mache“. „Setz dich doch zu uns!“ ruft die 27-Jährige. Hirthammer setzt sich, aber man sieht ihm an, dass er unsicher ist. Wo die Grenzen zwischen normaler, ja auch gewollter Dorfgemeinschaft und bezahltem Angebot verlaufen, das muss sich noch einspielen.

Susanne Pätzold, Reitlehrerin und -therapeutin, lebt seit ein paar Jahren in Lüchow. Sie ist in einem Nachbardorf groß geworden. Weil es viele Kinder als Spielkameraden für ihre Stieftöchter gab, zog sie mit ihrem Mann hierher. „Eine Weile war das super“, sagt sie. „Aber mittlerweile gehen alle auf verschiedene Schulen, teilen nicht mehr viel Alltag miteinander.“ Die Kultur im Dorf, auf die viele stolz sind, sei ihr nicht so wichtig. „Ich bin keine Anthroposophin, wie viele im Dorfverein, und ich fühle mich da manchmal unwohl. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Alles, was nach Ideologie riecht, macht mich skeptisch.“

Der Dorfverein, der sich einmal in der Woche trifft, ist Träger des Kindergartens und der Kulturveranstaltungen. Bei den Treffen sind freie Kindergartenplätze ebenso Thema wie die Frage, welche Band beim nächsten Kulturcafé zu Gast sein wird und wie es mit der Seniorenbetreuung weitergeht. Der Dorfverein ist so etwas wie eine politische Instanz.

Der Dorfverein ist die politische Instanz – einige können nicht viel mit ihm anfangen

Es gibt einige Bewohner, die mit dem Verein nicht viel anfangen können. Ein älterer Herr, der seinen Namen nicht nennen will, schimpft über den Gartenzaun hinweg: „Bevor die hierher kamen, hörte ich beim Einschlafen die Nachtigall – und jetzt quieken Schweine und krähen Hähne.“ Henning Bombeck, Professor für Siedlungsgestaltung an der Universität Rostock, kennt das tiefe Unverständnis zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen auch aus anderen Dörfern. Er glaubt, dass kaum etwas so wichtig sei für die Gemeinschaft wie Orte und Anlässe zur Kommunikation. Und dass am Ende die Qualität der Gemeinschaft und deren Möglichkeiten, sich selbst zu organisieren, darüber entscheiden werden, welche Dörfer bleiben und welche aufgegeben werden müssen.

Seit Jahren erforscht Bombeck, wie „Alternativensucher“ ländliche Räume erobern. „Das sind Menschen mit Ideen und Motiven und meist mit Bildungsbackground“, sagt er. „Es gibt dieses Ideal einer perfekten Kindheit, und die gehört für Viele aufs Land. Ob es gelingen kann, den ländlichen Raum zu retten, hängt auch mit der Frage zusammen, ob wir die Eltern halten können.“ Bombeck fährt regelmäßig mit seinen Studenten nach Lüchow, vor allem „um zu zeigen, was für eine Macht aktive Menschen haben“, sagt er. „Die haben da ein Dorf aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst.“ Trotzdem ist er skeptisch, ob der Ort als Modell taugt. „Nicht jedes Dorf hat einen Johannes Liess.“

Nicht einmal in der nahen Umgebung gibt es Nachahmer. In einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur Zukunftsfähigkeit der Regionen landete der Landkreis Güstrow, zu dem Lüchow bis 2011 gehörte, 2012 nur auf dem 382. von 413 Plätzen.

„Nicht jedes Dorf hat einen Johannes Liess“

Allerdings zeigt sich an Lüchow eben auch, dass es nicht nur auf den einen Macher mit großen Plänen ankommt. Sondern auch auf Menschen, die sie umsetzen. „Es gibt Leute, die gerne Dinge anstoßen und aufbauen“, sagt Ernestine Feustel-Liess. „Dran zu bleiben, das machen dann oft eher andere.“ Während die Leute in Lüchow aushandeln, welche Projekte sie vorantreiben, wer welche Aufgaben übernimmt, geht es aber auch immer darum, welchen Raum der Staat der Gesellschaft zur freien Gestaltung lässt, wo ihr Territorium beginnt und endet. Darf ein so kleines Dorf eine Schule haben?

Nathanael Schmidhubers Tochter Eva kommt nach den Sommerferien in die erste Klasse. Ihre Mutter, Sophia Warczak, setzt sich dafür ein, dass Lüchow eine neue Schule bekommt. Das Gute ist: Das Schulhaus, die Tische, Stühle und Tafeln sind ja noch da. Alles wäre bereit für einen zweiten ersten Schultag. „Weil ich beim ersten Anlauf nicht dabei war, gehe ich unbelastet und zuversichtlich an die Sache ran“, sagt Warczak. Im vergangenen Herbst haben die Lüchower bei der Landesregierung in Schwerin einen neuen Antrag gestellt, um eine Waldorfschule zu gründen. Der Bescheid kann täglich eintreffen.

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„Wahrscheinlich ist es am Ende doch nicht so verkehrt, was die hier wollen“, sagt Susanne Pätzold, die Reitlehrerin, die sich lieber zurückzieht, wenn es ideologisch wird. Sie denkt an die sterbenden Dörfer in der Umgebung, in denen kaum noch gelebt, nur noch geschlafen wird. „Vielleicht muss man so wie hier neue Dinge ausprobieren, erfinden. Arbeitsplätze schaffen.“

Und so malen sie in Lüchow weiter an dem Bild eines Dorfs, „das sich selbst genügt“, wie es Johannes Liess einmal formuliert hat. Auch wenn es vielleicht nie fertig wird.

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