Das gute Leben
Wie gut ist Deutschland?
4 minuten
4 November 2017
Titelbild: Andrew Robles / Unsplash
Wie gut ist Deutschland? Ein Versuch, Lebensqualität in Zahlen zu fassen
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4 November 2017
Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht – so der Titel des Buchs, das der Hauptdarsteller der Fernsehserie „Der ganz normale Wahnsinn“ über die Empfindungen seiner Mitmenschen schreiben möchte. Das war Anfang der 1980er Jahre und ein Lebensgefühl vieler Menschen. Ist das heute, fast 40 Jahre später, immer noch so?
Die äußeren Voraussetzungen für ein gutes Leben waren zumindest nie besser: Die Wirtschaft jagt immer neue Umsatzrekorde. Die Arbeitslosigkeit weist den geringsten Wert seit mehr als 25 Jahren auf. Der Ausstieg aus der Atomkraft: beschlossene Sache. Die medizinische Versorgung im Land ist modern und lückenlos. Errungenschaften, von denen die allermeisten Länder der Welt nur träumen können. Und trotzdem: Im fünften „World Happiness Report 2017“ der Vereinten Nationen belegt Deutschland nur Rang 16. Und die Zufriedenheitswerte im Report haben sich über Jahrzehnte kaum verändert.
Leben im Wohlstand
„Wir leben in einer Zeit, in der vielen Menschen das Empfinden für ihr eigenes Glück abhanden gekommen ist“, sagt Professor Joachim Weimann vom Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. In seinem auf englisch erschienenen Buch „Measuring Happiness“ geht er unter anderem der Frage nach, ob Wohlstand glücklich macht. „Ganz existenzielle Sorgen gibt es in Deutschland nicht mehr, die allermeisten leben in einem relativen Wohlstand“, so Weimann. „Dann entsteht eine Indifferenz gegenüber dem Zustand unserer Gesellschaft, die Bereitschaft wächst, die negativen Dinge wahrzunehmen und die positiven auszublenden.“
Geht man nach den reinen Zahlen, streben immer mehr Menschen in Deutschland nach einem bewussten, einem guten Leben: Ethische Banken hatten im Jahr 2005 rund 127.000 Kunden. Im Jahr 2015 waren es schon mehr als 370.000. Tranken die Deutschen 1991 noch 141 Liter Bier pro Kopf und Jahr, waren es 2015 nur noch 98 Liter. Mehr als jeder Dritte in Deutschland treibt regelmäßig Sport. Die Jugend schwört längst dem blauen Dunst ab: Der Anteil an Rauchern unter jungen Menschen lag 1989 bei 43 Prozent, heute sind es unter 18 Prozent. 2016 lag der Umsatz mit biologischen Lebensmitteln in Deutschland bei 9,48 Milliarden Euro, das ist – wie zuletzt in fast jedem Jahr – eine Steigerung um knapp zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. 25 Millionen Bürger sind auf irgendeine Weise ehrenamtlich tätig – eine Zahl, die mit den Geflüchteten, die ins Land gekommen sind, noch gestiegen ist.
Ist doch alles gut
Ehe für alle, Gleichberechtigung, offene Gesellschaft – entwickeln sich zum Positiven. Die Erwerbstätigenquote der Frauen in Deutschland ist in den vergangenen 15 Jahren von 58,1 auf 69,5 Prozent im Jahr 2016 gestiegen. Der Ruf nach mehr Kita-Plätzen, die Politik hat ihn erhört: Die Betreuungszahlen von Kindern sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Bei den unter 3-Jährigen zum Beispiel von 254.000 in 2006 auf 614.000 im Jahr 2016.
„Deutschland schneidet im Vergleich zu anderen Ländern nach vielen Messgrößen der Lebensqualität gut ab,“ so steht es im aktuellen „Better Life Index“ der OECD. Seine Werte lägen über dem Durchschnitt in den Bereichen Bildung, Work-Life-Balance, Beschäftigung, Umwelt, soziale Beziehungen, Wohnen, Sicherheit und subjektives Wohlbefinden. Ist doch alles gut, Deutschland?
Auf dem Land zum Beispiel nicht unbedingt: Junge Menschen fliehen wegen Perspektivlosigkeit in die Städte. Gab es 2003 noch 12.600 Dörfer, waren es zwölf Jahre später nur noch 11.100. Und der „Depressionsatlas“ der Techniker Krankenkasse, der Anfang 2015 in Berlin vorgestellt wurde, besagt, dass vom Jahr 2000 bis 2013 die Fehlzeiten aufgrund von Depressionen um fast 70 Prozent gestiegen sind. Wie passt das zusammen: Gute Noten im „Better Life Index“, trotzdem viele Unzufriedene, die in den Medien „Abgehängte“ genannt werden, oder gar Kranke?
Der verklärte Blick
„Im Vergleich zu den 1960er- oder 1970er-Jahren, als es in Deutschland in vielerlei Hinsicht steil bergauf ging, herrscht seit einigen Jahren eine gewisse Stagnation“, sagt Professor Jörg Oechssler. Er forscht an der Uni Heidelberg zum Thema Wirtschaftstheorie. Oechssler glaubt, dass die Unzufriedenheit vieler auch vom verklärten Blick zurück auf ökonomisch erfolgreiche Aufbaujahre herrührt. „Die wesentlichen Punkte aber, die zur echten Zufriedenheit beitragen – also Sicherheit, Gesundheit und ein gewisser Wohlstand – stimmen in Deutschland ja verglichen mit Ländern wie Mexiko oder Südafrika“, sagt er. Natürlich gäbe es aber auch die klassischen Hartz-IV-Familien, in denen sich die Lebensperspektive der Kinder im Empfang von Sozialleistungen erschöpfen würde. Unzufriedenheit ist da programmiert.
Diese Art von Unzufriedenheit sei aber nicht zu verwechseln mit der, die etwas ändert, die mitgestalten will, so Oechssler – protestierende Mütter, Demonstrationen gegen Atomkraft, TTIP oder Bahnhöfe. Unzufriedenheit kann also ein Motor für ein besseres Leben sein. Auch die Politik hat offenbar erkannt, dass ein hohes Bruttoinlandsprodukt allein kein gutes Deutschland für seine Bürger ausmacht. Umweltschutz, Ressourcenverbrauch, Regulierung der Finanzmärkte, aber auch Zufriedenheit und soziale Gerechtigkeit: Auf 844 Seiten hat der Abschlussbericht der Enquetekommission des Bundestages mit dem sperrigen Namen „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“, der 2013 vorgelegt wurde, den Ist-Zustand Deutschlands und seiner Einwohner untersucht – und entsprechende Handlungsempfehlungen gegeben.
Eine neue Lebensqualität?
Das Ergebnis: Das BIP bleibt zwar weiterhin tragende Rolle zur Messung des Wohlstands im Lande, die Steigerung der Wirtschaftsleistung soll aber kein Selbstzweck mehr sein. In Zukunft sollen auch die Einkommensverteilung und die Staatsschulden stärker berücksichtigt werden, auch Bildung, Gesundheit und Freiheit werden als Indikatoren aufgeführt. Außerdem wurde ein neues Wohlstands- und Fortschrittsmaß entwickelt: Es sollen neben dem „materiellen Wohlstand“ auch die Dimensionen „Soziales und Teilhabe“ sowie „Ökologie“ künftig Auskunft geben, wie es um die Lebensqualität steht.
„Ich fürchte, die Ergebnisse der Enquetekommission wird man in bestimmten Kreisen diskutieren, irgendwo ad acta legen, und das war’s dann“, sagt Joachim Weimann von der Otto-von-Guericke-Universität. Sein Rat für mehr kognitive Zufriedenheit: „Es würde sich schon positiv auswirken, wenn die Menschen eine stärkere Demut entwickeln.“ Viele der unzufriedenen Menschen müssten sich ihre positive Situation im historischen Kontext und im Vergleich zu allen anderen Ländern bewusst machen.