Afrika
Goldene Zwanziger für Afrika
5 minuten
30 September 2019
Prince Gyasi, 23, porträtiert die Bewohner seiner Heimatstadt Accra, der Hauptstadt Ghanas. Der iPhone-Fotograf zeigt in seinen Kompositionen meist Fotos von Menschen vor farbig leuchtenden Kulissen. Einige seiner Bilder sind Teil der Serie „BoxedKids“. Mit dem gleichnamigen Projekt, dessen Mitgründer Gyasi ist, will er benachteiligten Kindern aus Accras Slums helfen: Ein Zugang zu Bildung soll ihnen die Möglichkeit geben, ihr kreatives Talent zu entwickeln
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30 September 2019
Wenn Entwicklungsminister Gerd Müller vom „Chancenkontinent“ redet, meint er Afrika. Und das völlig zu Recht – perspektivisch gesehen: Der Kontinent mit dem niedrigsten Durchschnittsalter entwickelt sich ökonomisch äußerst dynamisch. Von den zehn Ländern mit dem höchsten Wirtschaftswachstum der Welt kamen zwischen 2013 und 2016 jeweils vier aus Afrika, 2017 waren es sogar fünf.
Und ein Staat schaffte es sogar in jedem dieser fünf Jahre in die Top 10: Äthiopien. Das Land, das vor noch gar nicht so langer Zeit Sinnbild für Armut, Hunger und Leid war, das Land, für das Karlheinz Böhms Stiftung „Menschen für Menschen“ in TV-Galas viele Millionen Spenden sammelte, ist geradezu zu einem Wachstums-Champion geworden – wenn auch von sehr niedrigem Ausgangsniveau.
Die meisten Menschen in Afrika denken allerdings bei „Chancenkontinent“ nicht an ihre Heimat; sondern an Europa. Und das völlig zu Recht – aus gegenwärtiger Sicht. Von den zehn Ländern mit der niedrigsten Wirtschaftskraft pro Kopf liegen zehn in Afrika. Nur ein einziger afrikanischer Staat hat ein höheres BIP pro Kopf als der globale Durchschnitt: die Öl-Diktatur Äquatorialguinea.
Jahr für Jahr machen sich Zehntausende Afrikaner auf den Weg, um in Europa ein besseres Leben zu finden; allein aus den Ländern südlich der Sahara sind seit 2010 mehr als eine Million Migranten in Europa angekommen. Aber Jahr für Jahr finden Tausende von ihnen in der Wüste oder auf dem Mittelmeer den Tod. Wenn die Vision vom Chancenkontinent Wirklichkeit werden soll, werden sich ökonomische Perspektiven in Afrika selbst auftun müssen, weit bessere als bisher.
Afrika kann auf „demografische Dividende“ bauen
Die Chance dafür ist vorhanden, denn in Afrika kommt zur Zeit eine ganze Reihe von Faktoren zusammen, die zu einem Wachstumsschub, zu goldenen 20er-Jahren auf dem Kontinent führen können.
Die wichtigsten dieser Faktoren werden im Begriff „demografische Dividende“ zusammengefasst: Weil die Geburtenraten drastisch zurückgehen, steigt der Anteil der Erwerbsfähigen an der Bevölkerung. Zudem kommen Generationen ins Erwerbsalter, die über deutlich höhere Bildung verfügen als ihre Eltern (nicht zuletzt dank drastisch gestiegenen Schulbesuchs- und Alphabetisierungsquoten) und deutlich seltener als diese in absoluter Armut leben (weil sich die ökonomischen Erfolge der letzten zwei Jahrzehnte bemerkbar machen).
Sowohl in Europa als auch in Asien waren beziehungsweise sind die Jahrzehnte mit dieser demografischen Konstellation geprägt von enormen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Ein historischer Vergleich, der heute Hoffnung macht: „In den 1940ern befanden sich asiatische Tigerstaaten wie etwa Südkorea in einer ähnlichen Situation wie afrikanische Länder heute“, schrieb die damalige nigerianische Finanzministerin Ngozi Okonjo-Iweala im Jahr 2013. „Sie hatten eine sehr junge Bevölkerung und bauten ihre Volkswirtschaften auf dem Rückgrat dieser großen Arbeitskraft auf. Sie haben sich von einem Entwicklungsland zu einem entwickelten Land gewandelt, indem sie in ihre jungen Arbeitskräfte investierten.“
20 Millionen neue Jobs – pro Jahr
Eine großartige Ausgangslage also für ein, nein: viele afrikanische Wirtschaftswunder – wenn es genügend Arbeit für diese emporstrebende Generation gibt. Und da liegt das Problem. „Bis 2035 müssen in Afrika jedes Jahr 20 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden, um neue Berufsanfänger aufzunehmen“, heißt es in einem Bericht des Internationalen Währungsfonds; das sind im Laufe der nächsten 15 Jahre zusammengerechnet mehr Arbeitsplätze, als es heute in ganz Europa gibt.
Wenn man darauf wartet, dass die Siemense dieser Welt solche Arbeitsplätze schaffen, wartet man zu lange und meist vergeblich. Von den vorhandenen einheimischen Unternehmen kann man ebenfalls nicht viel erwarten, schlicht weil es zu wenige davon gibt. Und der Staat und andere öffentlichen Einrichtungen können zwar eine wichtige Rolle beim Aufbau von Infrastrukturen spielen, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verkehr – aber für alles darüber hinaus gibt es zu wenig Kapital und zu viel Korruption.
Wie in der industriellen Revolution in Europa im 19. Jahrhundert, wie in den Wachstums-Storys in Asien im 20. Jahrhundert, liegt es deshalb nahe, auf einen anderen Treiber zu setzen: Unternehmensgründungen. Sie können vor allem für die junge Generation attraktive Perspektiven bieten, die die Chancen der Digitalisierung nutzt.
Digitalisierung erleichtert Gründungen
„Waren früher für die Gründung eines Unternehmens hohe Investitionen in Anlagegüter gefordert, reichen heute oft ein PC und eine einigermaßen passable Internetverbindung, um tragfähige Business-Modelle zu entwickeln“, sagt Sanssi Cissé, Start-up-Experte beim Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft in Berlin. „Heute wird vor allem die Kreativität und die technische Versiertheit von Gründern gefordert. Zumindest am Anfang einer Unternehmung ist ein möglichst großes Kapital nicht mehr der entscheidende Faktor.“
„Afrika hat genau die Technologie, die es für seine Entwicklung braucht“, sagt auch Nicholas Williams, IT-Experte bei der Afrikanischen Entwicklungsbank. Digitalisierung und mobiles Internet haben es möglich gemacht, Entwicklungsschritte zu überspringen, die andernorts nötig waren. Um über das lokale und globale Geschehen informiert zu sein braucht man keine Druckerpresse, um mit Kunden und Lieferanten zu kommunizieren braucht man keinen Telefondraht, um Geschäfte zu machen braucht man kein Bankkonto.
Das bekannteste Beispiel einer solchen Übersprungs-Innovation ist M-Pesa, das 2007 in Kenia entwickelte Handy-Bezahlsystem. Es hat Millionen von Afrikanern erstmals Zugang zu Finanzprodukten ermöglicht und maßgeblich zum Start-up-Boom in Kenia beigetragen.
„Jetzt ist der beste Zeitpunkt, ein Unternehmer in Afrika zu sein“, sagt Ahad Yassin Katera. Der 26-jährige Ingenieur hat 2014 in Dar es Salam in Tansania das Start-up Guavay gegründet, das Bio-Müll zu stickstoffverstärktem Bio-Dünger verarbeitet, der an Bauern und Gärtner verkauft wird. Und er sucht nach weiteren Wegen, um Technik mit nachhaltigem Geschäft zu verbinden: „Stellen Sie sich vor, wir könnten Pflanzen entwickeln, die Strom produzieren oder Bio-Müll so fermentieren, dass man daraus antibakterielle Seife für Kinder herstellen kann. Die Möglichkeiten sind unendlich.“
Gute Geschäfte mit Müll
Der Müll ist Ausgangspunkt für viele afrikanische Geschäftsideen. Weil er da ist, weil er immer mehr wird, und weil sich niemand darum kümmert – kommunale Müllbeseitigung ist in Afrika weithin unbekannt. Im nigerianischen Lagos beispielsweise gründete 2012 die MIT-Studentin Bilkiss Adebiyi-Abiola das Recycling-Unternehmen WeCyclers, das Bewohnern aus armen Vierteln der Multimillionen-Megacity Plastikmüll, Pappe, Aludosen und Glas abkauft.
WeCyclers reinigt und sortiert den Abfall und verkauft ihn an Recyclingfabriken, die aus dem Material neue Produkte herstellen. Das Unternehmen beschäftigt inzwischen mehr als hundert Mitarbeiter und bietet zudem tausenden von Haushalten einen Zusatzverdienst.
Kleine Anfänge – große Unternehmen
Gerade in einer Wirtschaft, die aus kleinen Anfängen heraus dynamisch wächst, können kleine erfolgreiche Entrepreneure auch schnell große, breiter aufgestellte Unternehmen aufbauen. Ein Beispiel dafür ist derzeit in Addis Abeba zu besichtigen, der Hauptstadt Äthiopiens. Dort hat Bethlehem Tilahun Alemu im Jahr 2004 das Unternehmen soleRebels gegründet.
Die Idee der damals 24-jährigen Äthiopierin: Recycling-Schuhe, mit Sohlen aus alten Autoreifen und Schäften aus Baumwolle und Jute. Inzwischen ist soleRebels die am schnellsten wachsende afrikanische Schuhmarke, macht mehr als eine Million Dollar Umsatz pro Jahr und verkauft Schuhe in mehr als 50 Ländern weltweit – unter anderem im eigenen Flagship-Store auf St. Pauli.
Alemu stößt aber auch in andere Geschäftsfelder vor, in denen sie ihre regionale Kompetenz vermarkten kann. Sie hat die Fairtrade-Ledermarke „Republic of Leather“ gestartet, und 2017 ein Café mit eigener Rösterei in Addis Abeba eröffnet. „Garden of Coffee“ soll die Kaffeekultur aus dessen Ursprungsland in die Welt tragen – schließlich, so Alemu selbstbewusst, sei Äthiopien die Heimat nicht nur der besten Kaffees der Welt, sondern auch der talentiertesten Röster.
Unternehmertum als Chance
Natürlich, es gibt nicht nur strahlende Erfolgsstorys. Auch auf einem „Chancenkontinent“ muss man bereit sein, Strapazen und Risiken auf sich zu nehmen, um ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Doch viele der Afrikaner, die zu einem solchen Wagnis bereit sind, gründen kein Start-up, sondern begeben sich auf den Weg nach Europa: Die Eigenschaften, über die diese Migranten verfügen, sind genau die Eigenschaften, die auch ein Entrepreneur braucht. Und das Geld, das sie für Schlepper und ihren Lebensunterhalt auf der Reise aufbringen müssen, könnte genauso gut als Startkapital für eine Unternehmensgründung dienen.
Je besser es gelingt, Entrepreneurship zu genau jener Perspektive für ein besseres Leben zu machen, die heute Millionen junger, fähiger Afrikaner in Europa erhoffen, desto besser für den Chancenkontinent von morgen – und auch für den Chancenkontinent von heute.