Politik

Start in die digitale Demokratie

Lesezeit:
3 minuten

30 October 2017

Titelbild: Max Slobodda

Sieht so die Zukunft der Demokratie aus?

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30 October 2017
Mit Liquid Democracy sollte die Politik im digitalen Jahrhundert ankommen. Aber der Weg dahin hat gerade erst begonnen

Es ist jetzt einige Jahre her, dass vom libertären Rand des politischen Spektrums eine Idee um sich griff, die erstmals eine Vorstellung davon gab, wie Politik im digitalen 21. Jahrhundert gemacht werden könnte. Diese Idee hieß „Liquid Democracy“, sie wurde von Mitgliedern und Sympathisanten der Piratenpartei entwickelt und vorangetrieben, und sie verhieß einen, eben, fließenden Zustand des politischen Handelns.

Daniel Reichert, einer der Mitbegründer des Vereins Liquid Democracy erklärte 2012, die Piratenpartei hatte gerade den Einzug in einige Landesparlamente geschafft, wie umfassend die damit verbundenen Visionen waren: „Wir haben uns daran gewöhnt zu sagen, dass wir in einer Demokratie leben, obwohl wir doch den größten Teil unserer Zeit in autokratischen Systemen verbringen – ob an der Schule, in der Universität, im Beruf, ja selbst Vereine haben oft eine steile Hierarchie und undemokratische Prozesse. Uns geht es beim Begriff Liquid Democracy nicht nur um fließende Übergänge zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, sondern insgesamt darum, wie wir für uns relevante Lebensbereiche in die Politik einfließen lassen können.“

Das war 2012. Jetzt backt man bei Liquid Democracy deutlich kleinere Brötchen. Aber immerhin, man backt sie, und redet nicht nur davon. „Das ursprüngliche Konzept scheint sehr weit in der Zukunft zu liegen“, sagt Rouven Brües, Vorstandsvorsitzender des Berliner Vereins Liquid Democracy. „Um dorthin zu gelangen, ist eine große Zahl von Zwischenschritten nötig. Daran arbeiten wir. Unser Ziel ist es nicht mehr, die komplette Demokratie digital zu machen. Sondern es geht darum, dort, wo im politischen Prozess digitale Elemente sinnvoll sind, diese mit einzubeziehen.“

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Individueller geht nicht

Mit dem „ursprünglichen Konzept“, das noch so weit entfernt ist, meint Brües das von den Politikwissenschaftlern kühl „delegated voting“ genannte themenbezogene Übertragen der eigenen Stimme. „Der Wähler kann jede Frage, mit der sich heute die Parlamente beschäftigen, selbst entscheiden – oder aber eine Partei bestimmen, die für ihn entscheiden soll“, formulierte schon vor zehn Jahren Jan Huwald, der damalige Geschäftsführer der Piratenpartei. „Auf diese Weise kann der Wähler selbst bestimmen, wie viel direkte und wie viel repräsentative Demokratie er möchte.“

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Man wählt eben nicht eine Partei, sondern vertraut seine Stimme bei jedem Thema der jeweils vertrauenswürdigsten Institution an: bei Steuern der CDU, bei Innenpolitik der SPD, bei Verkehr den Grünen, und bei Landwirtschaft Bauer Vahldieck aus dem Nachbarort. Und wenn einem heute die Innenpolitik der SPD nicht mehr gefällt, kann man ihr mit sofortiger Wirkung die Stimme entziehen und sie bei der Linkspartei parken. Noch individueller, noch flexibler, noch digitaler geht es nicht.

Technisch, das war den Liquid-Democracy- Leuten klar, würde ein solches System aufwendig werden, aber so etwas muss ja auch nicht von jetzt auf gleich umgesetzt werden – man kann in einer Partei, in einer Region, bei einem Thema anfangen, und mit den dabei gemachten Erfahrungen das Konzept und die Software weiterentwickeln. Und wenn die Piraten es nicht schaffen (und sie schafften es nicht), wird eben noch ein paar Jahre oder Jahrzehnte weiterentwickelt – die spektakulärsten Pleiten der Dotcom-Jahre 1999/2000 (boo.com oder Webvan) kamen schließlich auch ein Jahrzehnt später als Erfolgsmodell zurück (Zalando, Lieferheld).

Aber die Technik, so stellte sich heraus, war nicht das Problem – das Problem war die Stimme. „In der Praxis wurde und wird die Funktion des Delegierens der Stimme kaum genutzt“, resümiert Brües. Selbst wenn die Software es möglich macht, seine Stimme heute hier, morgen dort zu parken, ist dieses Feature nur für eine verschwindend geringe Zahl der an einem Entscheidungsprozess Beteiligten von Interesse. Von dem, was die Visionäre als das eigentlich Faszinierende, Gesellschaftsverändernde ansahen, waren die Menschen schlicht nicht fasziniert. Die Fixierung auf die partizipative Abstimmung, so die Lehre für das Team von Liquid Democracy, entspricht nicht dem, was sich die Menschen unter Partizipation vorstellen.

Liquid Democracy bringt Deliberativismus …

Und wenn man, wie es sich für eine radikaldemokratische Institution gehört, die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt des eigenen Bestrebens stellt, muss sich eben die Institution bewegen, und nicht die Menschen. Und das hat sie getan, so Brües: „Heute konzentrieren wir uns vor allem auf den Prozess der Entscheidungsfindung und -vorbereitung, nicht auf die Entscheidung selbst. Das deliberative Element steht im Vordergrund unserer Arbeit.“

Zu den aktuellen Projekten von Liquid Democracy zählt das Schulprojekt „Aula“, das von Politik Digital und Marina Weisband an vier Pilotschulen erprobt wird, ein Projekt zur Jugendbeteiligung, das es europäischen Jugendlichen ermöglicht, mit ihren Jugendorganisationen oder ihrer Stadt in den Dialog zu treten, sowie die Innovations-Plattform „Advocate Europe“, über die sich Projekte zur Stärkung der Europäischen Zivilgesellschaft transparent für eine Förderung bewerben können.

… und Co-Creation-Potenzial

Das erfolgreichste Projekt hingegen, das Liquid Democracy je begleitet hat, liegt praktisch vor der Haustür: die Entscheidungsfindung für das Tempelhofer Feld in Berlin. „Nach dem Bürgerentscheid vom Mai 2014 war klar, dass die Bürger bei der weiteren Planung mitreden sollten – aber es war nicht klar, wie das gehen sollte.“ Wirklich zu entscheiden würde es über Jahre hinaus nichts geben, schließlich hatte die Abstimmung ergeben, dass das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof ziemlich genau so bleiben sollte, wie es ist.

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Im Auftrag der städtischen Beteiligungsplattform mein.berlin.de entstand deshalb eine Plattform, die es möglichst vielen Menschen auf möglichst vielen Wegen ermöglichen sollte, möglichst viele Ideen einzureichen, aufzunehmen, weiterzuentwickeln. Bei solchen Co-Creation-Prozessen auf kommunaler Ebene sieht Rouven Brües „ein gewaltiges Potenzial für Schnittstellen zwischen Bürgerinnen und Verwaltung“. Insbesondere bei der Bau- und Flächennutzungsplanung würden die Interessen vieler, wenn nicht aller Bürger tangiert, die kommunalen Behörden seien aber meist noch weit davon entfernt, die jeweiligen Planungen so transparent und einfach darzustellen, dass die Bürger sich auch tatsächlich an Planung und Umsetzung beteiligen können.

Gebaut wird immer. Und Bürgermeister gibt es viele. Entsprechend optimistisch ist man bei Liquid Democracy, dass die Zeit für die digitale Demokratie arbeitet: „In immer mehr Städten in Deutschland gibt es Ausschreibungen für Bürgerbeteiligung. Die digitale Demokratie ist also nicht mehr das Nischenthema, das sie zur Zeit der Gründung unseres Vereins war, aber sie ist auch noch nicht im Mainstream angekommen.“

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