Kolumne: Mein erstes Mal

Mit der Meinung auf der Straße

Lesezeit:
3 minuten

13 November 2017

Wie es sich anfühlt, mit Rumstehen und Bier trinken seinen Protest zu demonstrieren

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13 November 2017
Der G20-Gipfel in Hamburg hat eine alte Gewohnheit zur Protestform gemacht. Wie es sich anfühlt, mit Rumstehen und Bier trinken seinen Protest zu demonstrieren

Ich hätte es auch bei dem Grauburgunder belassen können. Der hatte ausgezeichnet zu den Linsen mit Spätzle beim schicken Kiez-Schwaben gepasst, und um 23 Uhr wäre so mit dem letzten Schluck Wein der schöne Abend mit den Kollegen ausgeklungen. Aber dann sagte eine meiner Kolleginnen: „Lasst uns doch noch auf ein Bier cornern gehen“. Cornern? So wie Speaker’s Corner im Hyde Park? „Kommt einfach mit!“, sagte sie und schritt vornan. Drei Straßen weiter, bis zu einem türkischen Kiosk. Da stehen wir nun.

An einer Ecke (englisch: Corner) auf St. Pauli, in einer für Hamburger Verhältnisse halbwegs lauen Sommernacht, mit einer Bierflasche in der Hand. Wie so viele junge und nicht mehr ganz so junge Nachtschwärmer, auf den Bürgersteigen vor irgendwelchen Kiosken, die gute Geschäfte machen.

Wenn das Cornern ist, habe ich es schon oft gemacht. Und trotzdem ist das heute ein erstes Mal. Denn wir stehen nicht nur mit einer Flasche an der Ecke, sondern auch mit Bewusstsein. Hamburg erbebt im G20-Fieber, und wir beben mit. Bereits Tage vor dem Gipfel scheint die Stadt nur noch aus Absperrungen und rasenden Polizei-Kolonnen mit Blaulicht zu bestehen. Das Hubschrauber-Geknatter hört Tag und Nacht nicht auf. Man kann dem Gefühl, dass etwas Bedrohliches, Kontroverses ansteht, kaum entkommen. Viele, die sich aus dem Demonstrieren sonst eher heraushalten, haben das Gefühl, dass sie sich jetzt irgendwie positionieren müssen, nicht daheim auf dem Sofa sitzen können, während sich draußen die Stadt für den Ausnahmezustand rüstet, während sich Figuren wie Donald Trump oder Wladimir Putin auf den Weg an die Elbe machen und Ladenbesitzer ihre Schaufensterscheiben verbarrikadieren.

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Cornern kann ein stiller Protest sein

Die Leute drängt es nach draußen. Da kommt ihnen das Cornern gerade recht. So wie uns. Bier trinkend am Straßenrand zu stehen, ist schließlich nicht verboten. Auch in der Demonstrationsverbotszone nicht, zu der in diesen Tagen große Teile der Hamburger Innenstadt gehören. Wir sieben befinden uns jetzt mittendrin in der heißen Zone, an der Grenze von St. Pauli zum Gipfel-Ort Schanzenviertel. Den 50 Meter entfernten Pferdemarkt hat die Polizei kurz davor mit Wasserwerfern geräumt. Jetzt steht hinter der Absperrung die ganze Straße voller Menschen, nur noch Fußgänger kommen durch. In den Kiosken werden Sonderschichten gefahren, um die Kühlschränke aufzufüllen. Es ginge schneller, die Flaschen direkt aus den Kisten zu verkaufen. Kaltes Bier ist sowieso Fehlanzeige. Ich nehme lieber mal ein alkoholfreies.

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Sobald die Menschenmenge eine Kolonne mit Polizeifahrzeugen erblickt oder auch nur hört, recken sich Mittelfinger in die Höhe. Und es wird laut: „Haut ab!“, „Scheiß B…“, rufen viele. Wir schreien nicht mit. Wie viele, die rund um uns herum stehen. Die meisten unterhalten sich einfach weiter und nippen an ihren Flaschen. Mir reicht es auch, durch meine bloße Anwesenheit mein Missfallen gegenüber der großen Weltpolitik auszudrücken. Es ist ein gutes Gefühl, hier zu stehen. Ich komme mir vor, als setzte ich zumindest ein kleines Zeichen. Als nähme ich nicht komplett widerspruchslos hin, was hier in Hamburg abgeht und mich durchaus wütend macht: die Agenda des Gipfels, seine Gäste, dieser unglaubliche Aufwand, die schwerstbewaffnete Polizei, die Wasserwerfer – und dass ich hier und jetzt nur durch den Trick des Cornerns meine Meinung auf die Straße tragen darf. Versammlungen sind nämlich tabu hier bis zum Gipfelende.

In den Tagen rund um G20 wird in Hamburg gecornert, was das Zeug hält. Der Begriff ist in aller Munde, Menschen verabreden sich dazu, Bilder der entsprechenden Treffpunkt-Kioske werden in die Runde geschickt: „Wir entrollen ein Plakat gegen Trump und dann cornern wir!“ Gemeinsam gegen die da oben! Es ist naiv, aber das Cornern macht mich ein bisschen pathetisch. Es gibt mir das Gefühl, denen da drüben in den Messehallen, dem Tagungszentrum, zu zeigen, dass sie mit mir nicht alles machen können! Dass ich mich hier in stillem Protest aufstelle. Und ja nicht nur ich, sondern sehr, sehr viele. Das macht mich noch pathetischer. Sollten wir nicht mal weiter vorgehen und diesen Platz wieder besetzen?! Bier sind das Volk! Auf dem Heimweg rast wieder eine Polizeikolonne mit Sirenengeheul an mir vorbei. Und ich weiß, dass ich morgen Abend definitiv etwas anders machen werde: Ich lasse den Grauburgunder weg.

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