Effektiver Altruismus

Mit Hirn statt Herz spenden

Lesezeit:
7 minuten

22 May 2017

Titelbild: Madi Robson / Unsplash

Die Effektiven Altruisten berechnen, welches finanzielle Engagement die größte soziale Wirkung erzielt. Darf man das?

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7 minuten

22 May 2017
Effektive Altruisten wollen nicht bloß Gutes tun, sondern mit ihrem Engagement das beste Ergebnis erzielen. Dafür rechnen sie aus, wessen Leben am meisten wert ist. Darf man das?

Als Leon Lang den Effektiven Altruismus kennenlernte, sortierte er seine Prioritäten neu. Statt regelmäßig Flyer für Tierrechte zu verteilen, startete der Mathestudent an der Universität Bonn richtig durch. Sein Ziel: bessere Noten. Denn davon verspricht sich der 23-Jährige später ein höheres Gehalt. Das er wiederum dafür nutzen kann, um mehr Geld an Organisationen zu spenden, die Leid verhindern. Das, so sagt er, sei effektiver als seine bisherigen Aktionen in der Fußgängerzone. Auf einer Liste im Internet hat er sich verpflichtet, zehn Prozent seines künftigen Einkommens zu spenden.

Als Annalena Tetzner vom Effektiven Altruismus erfuhr, schraubte sie ihren Einsatz für das Studium erstmal herunter. Als Asienwissenschaftlerin, Schwerpunkt Kultur, ist mit einem hohen Einkommen nach dem Abschluss nicht zu rechnen. Besser sei es, sagt Tetzner, ihre Energie in die Verbreitung des neuen Ansatzes zu stecken. Jetzt engagiert sich die 23-Jährige in der Bonner Hochschulgruppe Effektiver Altruismus und überlegt, ob sie in ihrem Studium zu einem Wirtschaftsschwerpunkt wechseln sollte. Um später, so das Kalkül, mehr Karriereoptionen zu haben, um in der Welt etwas zu verändern.

Leon Lang und Annalena Tetzner verbindet eines: Sie wollen Gutes tun, „aber nicht einfach, wo es sich zufällig ergibt“. Sie wollen helfen, dabei aber nicht nur ihrem Herzen folgen, sondern auch ihrem Verstand. Also fragen sie: Was bringt den höchsten Nutzen? Wo erzielt eine Spende die größte Wirkung? Wie kann ich mit meinen Fähigkeiten am meisten bewegen? Deshalb nennen sie sich „Effektive Altruisten“.

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Erst kommen die anderen, dann das Ego

Altruisten sind Menschen, die erst an andere denken, dann an sich selbst. Effektive Altruisten wollen, dass sich das auch lohnt. Sie sind auf der Suche nach dem größtmöglichen „Impact“, wie sie es nennen. „Finde heraus, wie du am meisten Gutes tun kannst, und dann tue es“, schreibt der Schotte William MacAskill, der in Oxford Philosophie lehrt. Der 29-Jährige hat die Bibel der Effektiven Altruisten geschrieben: „Gutes besser tun“. Was „am meisten“ heißt, versuchen Effektive Altruisten, kurz EA, mit Kosten-Nutzen-Rechnungen zu ermitteln. Eine davon geht so: Von 10.000 Dollar könnte man einem Blinden hierzulande einen Blindenhund finanzieren – oder 300 Augenoperationen in Afrika, die blinden Kindern wieder das Augenlicht schenken. Wer rational entscheidet, müsse also für letzteres spenden, sagen Effektive Altruisten. Die Wirkung in der Welt sei größer.

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Vor zwei Jahren war EA kaum bekannt. Groß ist die Szene immer noch nicht, aber sie wächst beständig. Ihre Zentren liegen in Oxford, San Francisco, Melbourne und in der Schweiz. Etwa 2000 EAler gibt es allein in Großbritannien, weltweit sind es mehrere Tausend. Überall gründen sich Lokalgruppen, mehr als 30 sind es in Deutschland. Die EA-Stiftung in Berlin, gegründet im Sommer 2015, berät Menschen dabei, wie sie ihre Karriere nach EA-Kriterien ausrichten, und sie versucht mit inzwischen knapp 30 Mitarbeitern, die Idee in den deutschsprachigen Raum zu tragen. Finanziert wird sie von unabhängigen Spendern.

Meeting für besseres Spenden

Mathegebäude der Uni Bonn, Raum 0.011. Zwei Dutzend Interessenten sind gekommen. Ein Philosophiestudent hat auf Facebook von dem Treffen gelesen. Eine Germanistikstudentin hörte durch eine Freundin von der Gruppe. Andere wurden über die „Vegane Hochschulgruppe Bonn“ aufmerksam. Ein Mitglied der EA-Gruppe Köln will wissen, wie die Aktiven aus der Nachbarstadt ihr Anliegen vorantreiben. Alle finden den Ansatz „spannend“.

Leon Lang schreibt Zahlen an die Tafel. Welcher Regel folgt diese Zahlenreihe?, fragt er in die Runde. Kulis kratzen auf Papier, eine Schale mit Mandarinen wird herumgereicht. Lösungen haben nur wenige, viele raten eher als dass sie systematisch vorgehen. Lang überrascht das nicht. Mit der kniffeligen Aufgabe will der junge Mathestudent mit dem offenen Blick und dem feinen Lächeln seine Kommilitonen genau dafür sensibilisieren: sich der Grenzen ihrer eigenen Rationalität bewusst zu werden. Denn Menschen verhalten sich oft irrational, glauben Effektive Altruisten. Nicht nur beim Lösen einer Matheaufgabe, sondern auch beim Spenden. Zum Beispiel, wenn sie eher emotionalen Bildern aus Katastrophengebieten folgen als den Fakten. Lang erzählt von „kognitiven Verzerrungen“, „Mindware Gaps“ und anderen „unbemerkten Hindernissen für rationale Entscheidungen in menschlichem Handeln, die Studien der Entscheidungsforschung vielfach belegen“.

Er hält seinen Vortrag auf Englisch, wie es in EA-Gruppen üblich ist. Man versteht sich als internationale Gruppierung und schließlich sitzen auch Niederländer und Osteuropäer im Seminarraum. Vielleicht liegt es an der Fremdsprache, dass die Diskussion nur behäbig in Gang kommt. Vielleicht aber liegen den Studenten einfach praktischere Fragen am Herzen. Denn als es nach den Matheübungen konkret wird, nimmt die Debatte Fahrt auf: Kann ich auch mit kleinem Einkommen ein Effektiver Altruist sein? Brauchen wir, statt über die Methoden rationalen Vorgehens zu diskutieren, nicht erst ein gemeinsames „rationales Ziel“? Gibt es so was überhaupt?

Die meisten sind sich einig: Es kann nicht falsch sein, die Wirksamkeit zu hinterfragen, nach anderen Wegen zu suchen und diese kritisch zu diskutieren. Das sei ein EA-Grundsatz, sagt Lang: Wenn dir jemand bessere Argumente liefere, sei bereit, deine Meinung zu ändern. Am Schluss gibt Annalena Tetzner eine Kontaktliste herum. „Nächstes Mal machen wir Pläne für die Praxis.“

Effektiver Altruismus fragt offen: Was leistet meine Spende?

Es sind nicht nur einzelne Menschen, die nach der Wirksamkeit sozialer Arbeit fragen. Auch im professionellen Hilfssektor breitet sich die Idee aus, nicht zuletzt, weil öffentliche Gelder knapper werden und zunehmend mehr Philanthropen und Investoren den sozialen Sektor für sich entdecken. Sie wollen wissen, was ihr Geld leistet. In Deutschland ist es die Organisation Phineo, die Vereine, Einrichtungen und NGOs darauf abklopft. Zu den weltweit bekanntesten zählen GiveWell und Giving what we can – sie erstellen von mutmaßlich effektiven Organisationen Ratings, die denen der Finanzbranche ähneln. Und danach richten sich nicht nur Unternehmensberater und Hedgefondsmanager, wie zu Beginn der EA-Bewegung. Mittlerweile greifen auch Ärzte, Juristen und Studenten auf die Erkenntnisse zurück.

Mittagszeit. Im „Soy“ am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz duftet es nach Gemüse und warmer Sojasauce. Stefan Torges, Sprecher der EA-Stiftung, nimmt einen Schluck Ingwertee und beißt in seine Reisrolle. Er liebt die Berliner Szene, sagt er. Nirgendwo sonst fiele die Idee des Effektiven Altruismus auf so fruchtbaren Boden wie hier. 2015 ist der 24-Jährige deshalb nach seinem Philosophiestudium in Magdeburg hierher gezogen. Seitdem organisiert er Veranstaltungen, diskutiert mit Journalisten, pariert Einwände. Etwa: Wie, bitteschön, lässt sich berechnen, ob es sinnvoller ist, Geld für die Krebs-Therapie eines Deutschen auszugeben oder für einen HIV- Erkrankten in Afrika? Oder: Wie verträgt es sich mit einer selbstlosen Haltung, Hilfe permanent nach ökonomischen Kriterien abzuklopfen?

Bei Fragen wie diesen zieht Torges den „Qaly“ aus der Tasche. Das Kürzel steht für „Quality Adjusted Life Year“, was häufig mit „Qualitätskorrigiertes Lebensjahr“ übersetzt wird. Es ist ein in der Gesundheitsökonomie verwendeter Kennzahlen-Katalog, der versucht, mithilfe statistischer Methoden Kriterien für Glück zu entwickeln. Mit dem Qaly, sagt Torges, ließen sich rationale Ergebnisse auf ethische Fragen finden. Er lacht. „Was ist die Alternative? Auslosen, wem man hilft?“ Er hält EA für die beste Lösung.

Leistungsdruck beim Helfen

Das sehen nicht alle so. Die junge Bewegung ist umstritten. Ulrike Kostka, Caritasdirektorin für das Erzbistum Berlin, sagt, der „Leistungsdruck beim Helfen“ bereite ihr Sorgen, ebenso wie die Fixierung auf das „Diktat des größten Glücks der größten Zahl“. Wo führe es hin, die Einzelhilfe für den Obdachlosen gegen die strukturelle medizinische Hilfe in Afrika aufzurechnen? „Würden wir nur nach diesen Kriterien handeln, hätte der Obdachlose keine Chance auf Hilfe“, sagt Kostka. „Und wie will man den Wert von Beziehungen berechnen, die in der sozialen Arbeit so wichtig sind?“

Der Wirkungsforscher Volker Then, Direktor des Centrums für soziale Investition und Innovation in Heidelberg, nickt. „Nicht überall lässt sich eine einzelne, klare Ursache-Wirkungskette konstruieren“, so Then. „Und wir müssen immer wieder fragen: Welche Werte stecken hinter den Kriterien, mit denen wir Wirkung zu messen versuchen? Wie können wir die Wirkung am besten annäherungsweise erfassen?“ Sonst rette sich die Wirkungsmessung schnell wieder ins betriebswirtschaftliche Aufrechnen: Wie viel bekomme ich für mein Geld? Statt: Wie viel verändert das, was ich für mein Geld bekomme?

Trotzdem halten beide den Blick auf die Wirkung für sinnvoll. Kostka: „Er zwingt uns, genauer auf das Ergebnis unserer Arbeit zu schauen.“ Then: „Wir beobachten einen generellen Paradigmenwechsel im Engagement: Viele Menschen fragen nach der Effektivität und wollen unternehmerisch mitgestalten.“ Zu erwarten ist, dass sich künftig auch etablierte Wohlfahrtsorganisationen mehr Fragen nach dem Nutzen ihrer Arbeit gefallen lassen müssen.

EA-Stiftungs-Mann Stefan Torges sagt, er schätze solche Debatten. Auch Kritik an seiner Haltung. „Das macht uns besser und hilft bei der Selbstreflexion.“ Und beim Umgang mit den Zweifeln. Denn die existieren. Wäre es nicht besser, sich mit einem mitgebrachten Brot im Park zu treffen, statt zum Businesslunch im Restaurant? Was mache ich, wenn mein Partner ein Auto kaufen will statt zu spenden? „Solche Fragen treiben viele bei uns um“, sagt Torges. „Letztlich ist jede Entscheidung eine persönliche Abwägung.“

Wissenschaftlich Gutes tun

Redet man mit EA-Anhängern über ihre Motive, sprechen alle von „einem Herzensbedürfnis“, etwas gegen die Missstände in der Welt zu tun. Von einem Misstrauen gegenüber den großen Hilfsorganisationen hingegen, deren Arbeit man trotz Transparenzsiegeln und Rechenschaftsberichten längst nicht immer nachvollziehen kann, erzählt explizit niemand. Es ist eher ein rationaler Erkenntnisprozess und „die Einsicht, dass Gutes tun auch wissenschaftlicher geht“, wie es Annalena Tetzner formuliert. Effektive Altruisten wollen sicherstellen, dass ihr Engagement tatsächlich etwas verändert. Sie wollen spüren, wie sie wirksam werden. So wie Jonas Müller. Der 30-Jährige spendet etwa 60 Prozent seines Brutto-Einkommens. Das fällt ihm nicht schwer, sagt er. „Ich brauche nicht viel.“

Mit seiner Freundin lebt er in einer Drei-Zimmer-Wohnung, viele Möbel bekam er umsonst von Kollegen oder Freunden, Klamotten kauft er günstig. Dass manches T-Shirt unter schlechten Arbeitsbedingungen hergestellt sein mag, nimmt er hin. „Das gesparte Geld, das ich dadurch für eine effektive Hilfe spenden kann, tut mehr für die Arbeiter als jeder Fair-Trade-Kauf.“ Und was ist mit einem Auto, Urlaubsreisen, Essengehen? Nicht Müllers Ding. Am liebsten verbringt er seine Abende auf dem Sofa mit seiner Freundin und freut sich über Kleinigkeiten wie eine „coole Tasse“, die sie ihm kürzlich geschenkt hat. „Wir überschätzen die Bedeutung von Konsum für unser Glück“, sagt er und zitiert die Glücksforschung: „Nach einem kurzfristigen Kick pendeln wir uns wieder auf das ursprüngliche Glücksniveau ein.“

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Es ist nicht so, dass das Sparen, um zu spenden, schon immer seine Strategie war. Früher half er, wo es sich ergab, wie so viele. Unterstützte Austauschstudenten an der Uni und arbeitete nach seinem Informatikstudium bei einer NGO. Dann fiel ihm das Buch „Leben retten“ in die Hände, in dem der australische Philosoph Peter Singer anmahnt, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Not leidenden Menschen in der unmittelbaren Umgebung und anderen in fernen Ländern. Man müsse beiden helfen, nicht nur demjenigen, für den man zunächst mehr Empathie empfinde, sagt Singer.

Diese Gedanken ließen Jonas Müller nicht mehr los. Könnte er, mit seiner Ausbildung, nicht mehr bewegen als in seinem NGO-Job? Seit einem Jahr arbeitet er nun bei einer Firma für Finanzsoftware in Zürich. Er verdient doppelt so viel wie zuvor – und kann mehr spenden. Natürlich, ohne nette Kollegen und „ein moralisch tragbares Geschäftsmodell“ würde er den Job auf Dauer kaum durchstehen. Aber eine Software für Kundenberater von Schweizer Häuslebauern zu entwickeln, damit kann er leben. Mit seinen Spenden schafft er „mehrere Vollzeitstellen“ bei der EA-Stiftung in Berlin und engagiert sich seit einem Jahr im Vorstand einer Tierrechtsorganisation. „Das“, sagt Müller, „ist Glück für mich.“ Fertig ist er damit noch lange nicht. Sein Ziel: noch mehr verdienen, noch mehr spenden. „Wenn ich mit ein paar hundert Euro mehr nicht nur 18 Kinder retten kann, sondern 20 – dann werde ich doch nicht sagen, ach, jetzt reicht’s.“

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