Wege aus der Obdachlosigkeit

Obdachlosen-Hilfe: Was genau tun?

Lesezeit:
4 minuten

13 June 2018

Oftmals ist man sich unsicher, wie genau man Obdachlosen helfen kann. enorm stellt sieben Initiativen vor

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13 June 2018
Schüler, Bäckereien, Friseure: Hilfe für Obdachlose kommt auch von privat oder von kleinen Unternehmen. Sieben bemerkenswerte Initiativen

Bessere Beziehungen für eine bessere Welt

Mittendrin statt am Rand der Gesellschaft – das gilt für das Wiener Projekt „VinziRast“. Obdachlose, Flüchtlinge und Studenten leben hier seit 2013 in zehn Wohngemeinschaften in einem Biedermeierhaus aus dem 18. Jahrhundert zusammen. Hinter dem Konzept steht Cecily Corti, in der Hauptstadt Österreichs bekannt für ihr jahrzehntelanges Engagement. Als Studenten und Obdachlose 2009 wegen schlechter Studien- und Wohnbedingungen das Audimax der Universität besetzen, dort zusammen leben, kochen und protestieren, entwickelt die heute 77 Jahre alte Obfrau des Vereins „Vinzenzgemeinschaft St. Stephan“ die weltweit einmalige Idee. 29 Bewohner füllen heute die Gemeinschaftsräume mit Leben und arbeiten in den angegliederten Werkstätten – von der Fahrrad- bis zur Möbelreparatur – sowie in einem öffentlichen Restaurant.

280 bis 350 Euro kostet die Miete für eine Ein- bis Zweizimmerwohnung im Monat, ein regelmäßiges Einkommen ist Grundvoraussetzung für einen Platz. Bei Problemen vermittele eine Art Hausleiterin, mische sich aber so wenig wie möglich ein. Es sei eine Gratwanderung, sagt Initiatorin Corti. Aber das Zusammenleben so grundverschiedener Persönlichkeiten brauche Impulse und gemeinsame Gespräche. „Obwohl ich ein ungeduldiger Mensch bin, sehe ich bereits viele erreichte Ziele“, so Corti. „Es zieht keiner aus, ohne von dem Zusammenleben profitiert zu haben.“ Ihr persönlicher Antrieb: „Bessere Beziehungen für eine bessere Welt. Mit dem Projekt leiste ich hierfür meinen eigenen Beitrag.“

Raum für Begegnung und Austausch

An der U-Bahn, vor Supermärkten oder auf der Parkbank gehören Obdachlose zum täglichen Bild der Großstadt. Wirklich gesehen werden sie hingegen selten. Um einen Raum für Austausch zu schaffen und die Kluft zum „Rest der Gesellschaft“ zu verringern, gründeten Katharina Kühn und Sally Ollech 2012 „querstadtein“. Die Idee der besonderen Stadtführung gab es bereits in Hamburg, London und Kopenhagen – in der Hauptstadt erweiterten die Beiden das Konzept um eine weitere Zielgruppe. Seit 2016 zeigen nicht nur Obdachlose, sondern auch Geflüchtete „ihr Berlin“ und kommen so mit verschiedenen Menschen ins Gespräch. Ziel sei es, Vorurteile zu überwinden und den Teilnehmern einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, so heißt es bei „querstadtein“. Gefördert wurde das Projekt von der Bundeszentrale für Politische Bildung.

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Kostenlose Behandlung

2571 Abende, 10.484 Stunden und 44.061 Behandlungen – dies ist die Bilanz von über 20 Jahren Straßenambulanz München. 1997 initiierten der Orden der Barmherzigen Brüder, der Katholische Männerfürsorgeverein und die Arztpraxis für Wohnungslose die niedrigschwellige Versorgung obdachloser Menschen in München. Bis heute leistet die rollende Arztpraxis drei Mal in der Woche eine Akutversorgung vor Ort – kostenlos und auch ohne bestehende Krankenversicherung.

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„Die Patienten kommen aus allen Schichten der Gesellschaft und sind aus unterschiedlichsten Gründen in Not geraten“, sagt Thomas Beutner, Facharzt für Chirurgie und Allgemeinmedizin, der die Praxis seit 2017 im Wechsel mit seiner Kollegin Angelika Eisenried leitet. Für viele bedeute diese Ambulanz die einzige ärztliche Anbindung. „Wir versuchen, den Obdachlosen so gut wie möglich zu helfen“, sagt der Arzt. „Unser Ziel ist es, sie in die Arztpraxis für Wohnungslose mit einer umfassenderen ärztlichen Versorgung zu lotsen.“

Haare schneiden aus Nächstenliebe

Papst Franziskus machte es vor: Er eröffnete in der Nähe des Petersplatzes in Rom einen kostenlosen Friseursalon für Obdachlose. Mit viel Nächstenliebe wird auch der Motor des Vereins „Barber Angels Brotherhood“ – also eine Bruderschaft der Friseur-Engel – betrieben. Im November 2016 gründeten zehn Friseurmeister aus dem ganzen Bundesgebiet den Club, der Menschen ihr Selbstvertrauen wiedergeben will. Seither rücken die mittlerweile 111 Mitglieder jährlich zu diversen Einsätzen aus.

In schwarzen Lederwesten und mit rockigem Clublogo waschen, schneiden und föhnen sie Obdachlosen und Bedürftigen kostenlos die Haare – zuletzt sogar Straßenkindern in den Katakomben der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Finanziert werden die Einsätze über Mitgliedsbeiträge, Einnahmen des eigenen Online-Shops und Sponsoren. „Wir wollen die Idee immer weiter ausbreiten“, sagt Claus Niedermaier, Initiator des Projektes. „3500 Menschen konnten wir bisher ein Lächeln auf das Gesicht zaubern – und manchmal sogar einen Anstoß für eine positive Veränderung ihres Lebens geben.“

Eine kleine Tonne für den Unterschied

„Stopp“, heißt es für Getränkeflaschen an den Sicherheitskontrollen deutscher Flughäfen: Sie landeten bisher im Müll. Das Unternehmen „Der Grüne Punkt“ griff eine Idee der Studentenorganisation „Enactus“ Regensburg auf und errichtet seit 2013 in deutschen Abflughallen transparente Sammelgefäße. Neben Stuttgart, Köln/Bonn, Hamburg, Bremen, Dresden und Paderborn beteiligt sich nun auch Berlin-Tegel an der gemeinsamen Initiative „Spende dein Pfand“. Das Besondere: Es geht nicht bloß um den Erlös. Obwohl der Erlös von 300.000 Euro von über 1,1 Millionen Flaschen für gemeinnützige Projekte durchaus beachtlich ist: Das Projekt verhilft zurzeit auch 13 Langzeitarbeitslosen und ehemals Obdachlosen zu einem festen Job. Als sogenannte Pfandbeauftragte sortieren sie Flaschen nach Einweg- und Mehrwegverpackungen in spezielle Säcke – um die Logistik kümmert sich „Der Grüne Punkt“. Mit den Erlösen aus Pfandgeldern und dem Recycling nanzieren sich die neuen Arbeitsplätze.

Obdachlose als Brotretter

Eine zweite Chance bekommen Brote, vor allem aber auch Menschen, bei der Bäckerei Junge: Das norddeutsche Familienunternehmen bietet in zwei Filialen in Hamburg und Lübeck Backwaren vom Vortag an – und stellt für den Verkauf ehemalige Obdachlose ein. Täglich werden so 500 unverkaufte Brote von den insgesamt 180 Geschäften gerettet. Sozialarbeiter des Obdachlosen-Magazins „Hinz&Kunzt“ in Hamburg sowie der Vorwerker Diakonie in Lübeck suchen die künftigen Bäckereiverkäufer aus – zum Beispiel Stefan Rüdiger. Er kam vor über einem Jahr zu den „BrotRettern“ in der Lübecker Holstenstraße. Zuvor durchlebte der 36-Jährige in seinem Leben einige Tiefen, brach zwei Ausbildungen ab und verdiente sich Geld mit Aushilfsjobs dazu.

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Mit der Vorwerker Diakonie begann bei der Bäckerei nun, was Gerd Hofrichter, Leiter der Unternehmenskommunikation bei Junge, als Bilderbuchkarriere bezeichnet. „Regelmäßige Arbeitszeiten und feste Aufgaben helfen bei der Rückkehr in ein geregeltes Leben“, so Hofrichter. Erfolg führe zu neuem Selbstbewusstsein und einem sicheren Auftreten im Team und vor den Kunden. „Ursprünglich wollten wir etwas gegen die Lebensmittelverschwendung machen. Jetzt sind die Menschen in den Mittelpunkt des Projektes gerückt und haben mit ihrem Engagement unsere Erwartungen sogar übertroffen.“ Im vergangenen Herbst wechselte Stefan Rüdiger nun in eine Festanstellung in einer Filiale in Bad Schwartau. Er hat seine Chance genutzt.

Rucksack voller Hoffnung

Schnürsenkel, Rasierschaum, Unterhosen – für den Einen sind es alltägliche Dinge, für den Anderen können sie Hoffnung bedeuten. Diese und ähnlich nützliche Spenden packen die jungen Menschen von „Rucksack voller Hoffnung“ in Rucksäcke, um sie an Obdachlose zu verteilen. „Die Idee kommt aus den USA, wurde in Hamburg erprobt und in mehreren deutschen Städten bereits adaptiert“, heißt es bei der Initiative in Münster. Zwei Oberstufenschüler haben vor drei Jahren damit begonnen, mittlerweile besteht eine feste Gruppe, die regelmäßig neue Hilfsaktionen plant. Ihre Motivation? „Es sind die vielen kleinen Momente, die uns immer wieder Kraft spenden“, sagt Mitgründer Sebastian Jeising. „Wir wollen den Obdachlosen das Gefühl geben, ein Teil unserer Gesellschaft zu sein.“ Um für das Thema langfristig zu sensibilisieren, planen die Schüler „Wohnungslosigkeit“ im Unterricht zu etablieren – und durch Erfahrungsberichte „das wahre Leben in die Isolation der Schule“ zu holen.

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