Wege aus der Obdachlosigkeit
Eine radikale Empathie-Übung
5 minuten
30 October 2019
Im Theaterstück „Das halbe Leid“ spielen Schauspieler Obdachlose
5 minuten
30 October 2019
Das Wort Empathie stammt aus dem Altgriechischen, es bedeutet Mitgefühl, Verständnis, Einfühlungsvermögen. Jeder weiß das. Denn Empathie ist eine Art Zauberwort, erlebt eine Phase späten Ruhms. Wir leben in einem Zeitalter der Empathie: Experten empfehlen nicht nur Führungskräften, mehr Empathie zu wagen. Bildungspolitiker diskutieren darüber, das Thema Empathie als Lehrstoff einzuführen. Achtsamkeitstrainer beschwören die Kraft des Mitfühlens. Und Psychologen erklären, erst Empathie mache menschliche Beziehungen möglich, sei Voraussetzung moralischen Handelns. Klar: Um ein guter Mensch zu sein, gehört es unbedingt dazu, empathisch zu sein.
Eine radikale Trainingseinheit in Sachen Empathie hat gerade das Hamburger Schauspielhaus angeboten. Rund um Weihnachten, bis in den Januar hinein, gab das dänisch-österreichische Künstlerkollektiv Signa dort ein Gastspiel. Signa ist eine Performance-Truppe, gegründet 2001 von der Dänin Signa Sørensen, heute Köstler.
Seit 2004 leitet sie das Projekt gemeinsam mit ihrem österreichischen Ehemann Arthur Köstler. Das Duo gilt als Marktführer des immersiven Theaters, sprich: einer Spielform, bei der die Zuschauer direkt am Geschehen beteiligt sind. In ihren Performance-Installationen – so bezeichnen Signa und Arthur ihre Arbeiten – kreieren sie in sich geschlossene Welten, die der Zuschauer betreten, erfahren und erforschen kann. Errichtet werden sie in leerstehenden Schulen, alten Fabrikhallen oder auf sonstigen Brachflächen. Dort gibt es keine unsichtbare Wand zwischen Bühne und Parkett. Wer hineingeht, landet mit Haut und Haar in einer anderen Welt. In diesem Fall in der von Obdachlosen.
„Das halbe Leid“ – zwölf Stunden am Stück
Die jüngste Signa-Inszenierung heißt „Das halbe Leid“. 50 Zuschauer waren in jeder der 25 Vorstellungen dabei, insgesamt haben sich auf diesem Wege also 1250 Menschen intensiv mit dem Thema Empathie auseinandergesetzt. Und zwar 12 Stunden am Stück. Eine ganze Nacht verbrachten sie zusammen mit den rund 40 Signa-Darstellern, die „Leidende“ und „Mitleidende“ spielten, in einer alten Fabrikhalle in Hamburg-Barmbek – in einer denkbar unwirtlichen, kalten, lauten und schmutzigen Umgebung. Die Rahmenhandlung der Aufführung ist schnell erzählt: Ein fiktiver Verein, er nennt sich „Das halbe Leid“, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Empathiefähigkeit und Solidarität unter den sogenannten privilegierten Menschen zu fördern. Deshalb bietet er ihnen zwölfstündige Kurse im Mitleiden an. „Wer das Gute sucht“, heißt es in der Ankündigung, „der möge sich hier einfinden.“ Axel Hildebrandt, 40, Projektleiter aus Hamburg, und sein Freund Thomas hatten sich gleich bei Verkaufsbeginn um Karten gekümmert; tatsächlich war die Performance nach ein paar Stunden ausverkauft.
„Wir gehören zur treuen Fangemeinde“, sagt Hildebrandt. Auch bei den beiden früheren Schauspielhaus-Gastspielen von Signa 2013 und 2015 waren Hildebrandt und sein Partner dabei. Die Karten für „Das halbe Leid“ lagen schon bei ihnen zu Hause, als die „Zeit“ eine der Schauspielerinnen der Produktion interviewte. Unter der Überschrift: „Zwölf Stunden Seelenschmerz, Demütigung, Gewalt“. Hildebrandt fragte in seinem Freundeskreis, ob jemand Interesse an zwei Karten hätte. Sie sind dann doch selbst hingegangen.
Ab 19 Uhr an jenem Samstagabend im Dezember waren sie also „Kursisten“, sprich: Kursteilnehmer. Jeder Leidende suchte sich anfangs zwei Kursisten aus; die bekamen dann einen neuen Namen und andere Kleider. Hildebrandt wurde von Rolf ausgewählt, einem Alkoholiker, der um seinen Bruder trauert und Pfandflaschen sammelt. Axel war von da an „Rolf 2“, trug Klamotten, die man ihm in der Kleiderkammer zugewiesen hatte, blieb stets in Rolfs Nähe. Im Männerschlafsaal lag er neben ihm, in der Suppenküche aßen sie gemeinsam Kohlsuppe. Sie tranken Bier und hörten Vorträge über Leid und Mitleid, die Kursisten übten das Weinen. Und sie redeten. Über Rolfs Schicksal, über Empathie, über ihr eigenes Leben. „Keiner der Darsteller ist in diesen zwölf Stunden aus seiner Rolle gefallen, sie steckten tief drin in den Geschichten“, sagt Hildebrandt. „Ich habe mich auf diese Welt eingelassen. Meinen Schutzpanzer brechen lassen. Und wirklich tiefgehende Gespräche geführt.“
„Das halbe Leid“ ist Sybille Meiers sechste Arbeit mit Signa. Die ersten drei hat sie als Dramaturgin des Schauspiels Köln mitentwickelt, die zweiten drei am Hamburger Schauspielhaus. „Es gibt nicht so viele Möglichkeiten, in ganz andere Welten einzutauchen“, sagt sie. Das mache die Arbeiten von Signa so sehr besonders. „Empathie ist schon immer das Thema des Theaters“, sagt die 46-jährige Germanistin. Man fühlt sich ein in das, was die Personen auf der Bühne spielen. „Der Zuschauer ist dabei klassischerweise mit dem Kopf dabei. Bei Signa aber auch mit seinem Körper.“ Nach dem Kleidertausch sei kaum noch erkennbar, wer wer ist. Schauspieler oder Zuschauer? Leidender, Mitleidender oder Kursist?
Kontakt zu Obdachlosen
Meier hat die Nacht der Generalprobe mit in der Fabrikhalle verbracht, als Kurs-Teilnehmerin. Sie habe an sich selbst wahrgenommen, wie schnell man in andere Welten eintauchen könne – aber auch, wie bereitwillig man deren Machtstrukturen und Regeln übernehme. Am Morgen nach der Premiere ist sie um sieben Uhr zur Fabrikhalle gefahren, hat beobachtet, wie Zuschauergruppen zusammenstanden, völlig müde, aber mit großem Redebedürfnis: „Gehen wir noch einen Kaffee trinken?“
Die Darsteller ihrer Performances castet Signa in einer offenen Ausschreibung; sie sind nicht alle Schauspieler, sondern kommen auch aus anderen Berufen. Entscheidend ist, dass sie den Willen und das Interesse, auch die Stärke haben, Teil des fordernden Projekts zu werden. Wochenlang hat die Gruppe über Obdachlosigkeit, Leid und Empathie recherchiert. Sie hat Kontakt zu Obdachlosen vom Hamburger Hansaplatz gesucht, Projekte und Quartiere für Wohnungslose besucht.
Die akute Probenphase schließlich dauerte viereinhalb Wochen, in denen die Geschichten der einzelnen Figuren bis ins Detail entwickelt wurden – vor allem von den Darstellern selbst. In einem täglichen Austauschprozess hielten sie sich gegenseitig auf dem Laufenden; jeder wusste alles über jede Figur – das machte die künstlich geschaffene Welt in der alten Fabrikhalle in sich so logisch und geschlossen. Und ließ sie nahezu real erscheinen.
Grenzen lösen sich auf
„Ich hatte von Signa gehört, aber nie Karten bekommen“, sagt Silvia Classen, 57, Psychotherapeutin. Diesmal zog sie am zweiten Tag nach der Premiere abends in die Fabrikhalle ein. Ihre Leidende hieß Lore, eine junge Frau mit dunklen Augen unter kräftigen Augenbrauen, blasses Gesicht, grauer Anorak. Classen bekam bewusst ähnliche Kleidung wie Lore. Sie fand faszinierend, wie schnell sich die Grenze zwischen den Beteiligten auflöste. „Es fühlte sich so an, als sei man wirklich in einer Obdachlosen-Unterkunft.“ Ab und zu habe sie sich daran erinnert, dass das Ganze eine künstliche Situation sei, das machte sie besser aushaltbar. Manches konnte Classen so ein wenig fern von sich halten, nicht aber das Elend von Lore. „Sie war mir sehr nah. Als ich am nächsten Morgen gegangen bin, hat sie bitterlich geweint, ich solle doch bleiben, all das gemeinsam mit ihr aushalten. Ich bin richtig fertig rausgegangen. Und ihre Geschichte hat mich noch tagelang beschäftigt.“
Axel Hildebrandt ist um 2.30 Uhr gegangen. Trotz Nachtruhe ab ein Uhr blieb es laut in den Räumen, an Schlaf war nicht zu denken. Wolfsheulen tönte vom Band, gewalttätige Auseinandersetzungen waren zu hören, Darsteller gingen weinend und klagend durchs Haus. Als Hildebrandt einmal aus dem Halbschlaf hochschreckte, stand jemand neben seinem Bett und starrte ihn an. „Ich wollte nach Hause“, sagt er. Er suchte seinen Freund, gab ihm Bescheid und ging zum Spind mit seinen eigenen Kleidern. Darsteller Rolf ging mit ihm und flehte: „Geh nicht, das fällt auf mich zurück!“ An der Tür nach draußen bat er: „Vergiss mich nicht. Du weißt ja jetzt, wo wir sind …“
Riesengroßer Effekt
Hildebrandt dachte lange über diese Nacht nach, sprach mit seinem morgens heimkehrenden Partner darüber. „Ich weiß nicht, ob das alles so krass sein muss“, sagt er. „Aber das Erlebnis wirkt sehr nach. Ich würde schon sagen, dass ich einen neuen Blick auf obdachlose Menschen bekommen habe. Darüber nachdenke, welche Geschichten sie haben, wie schnell es gehen kann, abzurutschen.“
Kurz nach der letzten Vorstellung gab es im Schauspielhaus ein Publikumsgespräch zu „Das halbe Leid“. Signa und Arthur Köstler und fast alle der Darsteller waren da, der Andrang auf Zuschauerseite sehr groß. Sybille Meier, die Dramaturgin, hat den minutenlangen stehenden Applaus miterlebt – dieses Wiedersehen sei für beide Seiten sehr ergreifend gewesen, sagt sie. Zwei Stunden wurde über die Entstehungsgeschichte und den Probenprozess diskutiert. Vor allem aber ging es um die Wirkung der Nächte in Barmbek. Silvia Classen hat diese Frage für sich klar beantwortet. „Ich bin aufmerksamer geworden“, sagt sie. „Obwohl ich nur Kontakt mit Schauspielern hatte, die Obdachlose spielen: Der Effekt ist riesengroß.“