Realitäts-Check

Was ist gutes Leben?

Lesezeit:
5 minuten

23 September 2019

Titelbild: Ales Krivec / Unsplash

Die Vorstellung seines perfekten Lebens ist nicht immer die Beste. Es kommt meist anders. Aber dennoch gut

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23 September 2019
Das gute Leben ist ein selbstbestimmtes, freies Leben, meint die Schriftstellerin Mirna Funk. Dabei hatte sie von einem ganz anderen Leben geträumt

Wenn ich mit meiner anderthalbjährigen Tochter auf dem Spielplatz bin, dann kann ich unsere zukünftige Welt sehr klar vor mir sehen. In dieser Welt gibt es keinen eigenen Besitz und keine Aggression mehr, dafür Multikulturalität und Nachhaltigkeit. In dieser Welt ist man höflich, achtsam und liebevoll zueinander. In dieser Welt gibt es Familienbetten für Nähe, ausgewogene Ernährung und gesunde Langeweile statt ungesunde Dauerbestrahlung.

Wir, die Eltern der deutschen Großstädte, machen unseren Kindern vor, wie ein gutes Leben aussehen kann. Wir erklären ihnen zum Beispiel, dass es so etwas wie „meins“ nicht mehr gibt. Oldschool ist das nämlich. Denn heutzutage wird alles geteilt: Autos, Musik, Filme, die Bohrmaschine und auch die Schippe im Buddelkasten. „Sharing is caring“ sagen die Eltern ständig auf dem Spielplatz, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter panisch die Schippe umklammert, weil ein anderes Kind gerade danach greift. Nein, die Schippe will sich das andere Kind nur mal kurz ausleihen. Nein, die Schippe gehört uns allen. Bitte lass die Schippe los, es tut auch nicht weh.

Ich dachte, mein Leben wird ruhig

Und dann lässt das Kind traurig die Schippe los und hat das gelernt, wonach wir Erwachsenen schon seit ein paar Jahren leben. Das ist verrückt zu sehen, weil man plötzlich Evolution versteht. In alten Kindererziehungsbüchern steht noch, meins und deins, das ist eine wichtige Phase, zwingen Sie Ihr Kind nicht, die Schippe abzugeben. Es soll die Schippe unbedingt behalten.

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Meine Tochter geht in eine Kindergartengruppe, in der 90 Prozent aller Kinder aus internationalen Familien stammen und Deutsch, Englisch, Hebräisch, Französisch, Russisch, Japanisch und Niederländisch sprechen. Sie haben eine binationale, wenn nicht sogar trinationale Identität. Und das ist nicht forciert. Es handelt sich dabei nicht um einen internationalen Kindergarten, sondern eine völlig normale Tagesgroßpflegestelle im Prenzlauer Berg. So sieht die Realität also längst aus.

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Ich bin jetzt 36 Jahre alt und als ich Teenager war, dachte ich, in diesem Alter säße ich längst in irgendeiner tollen Altbauwohnung, die mir gehört, mit meinem Mann und zwei Kindern. Ich dachte, mein Leben würde ruhig sein. So ruhig, dass man unentwegt die Nachbarn über und neben einem hört. So ruhig wie ein See an einem klaren Sommertag. Leichte Wasserbewegungen. Mehr nicht.

Ich dachte, ich hätte irgendeinen Job, den ich fünf Tage die Woche von Nine-to-five machte. Einen Job, den ich an manchen Tagen gut und an manchen Tag doof fände, aber grundsätzlich als Erfüllung betrachtete. Denn auch Erfüllung ist mal gut und mal schlecht. Mein Mann würde genau wie ich irgend so einen Job haben, der ihn zufrieden machte, aber von dem er nicht mehr erwartete, als dass er Geld nach Hause brächte. Unsere Familie wäre der Hort absoluten Glücks. Am Wochenende führen wir in den Wald. Mit den Kindern. Irgendwo bei Berlin. Ein Kind säße auf seinen Schultern und das andere auf meinen, während wir auf einem Sandweg entlang spazierten. Bevor wir ins Auto stiegen, um zurück nach Hause zu fahren, küssten wir uns zaghaft und liebevoll auf den Mund, schauten uns dabei mit warmen Augen an und bestätigten mit diesen Gesten dort angekommen zu sein, wo wir seit immer hatten sein wollen. Streit? Den gäbe es ab und zu über Belanglosigkeiten, weil man sich nach zehn Jahren Ehe eben nur noch über Belangloses streitet. Die großen Kämpfe und Reibereien wären längst passé. Makeup-Sex hätten wir aber immer noch. Und die drei Tage danach, fühlten sich so an, wie die ersten Tage unseres Kennenlernens.

Während ich meinem Reihenhaus-Traum nachjagte, veränderte sich die Welt. Neben mir haben auch die restlichen Eltern auf dem Spielplatz und in Ettas Kindergartengruppe keinen klassischen Nine-to-five-Job mehr. 20 Prozent mögen davon noch ein normales Arbeitsleben führen, aber auch die wird es in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr geben. Warum auch? Wieso sollte man 40 Stunden in ein- und demselben Büro sitzen? Dank der Digitalisierung und Technisierung haben wir endlich die Möglichkeit, flexibler zu arbeiten und so auch flexibler zu leben. Dass kommt vor allem unseren Kindern zu Gute. Aber auch uns selbst: Zeit zu atmen, zu denken und zu träumen. Von einer besseren Zukunft zum Beispiel und nicht von alten Vorstellungen von Glück.

Der langweiligste Teenager der Welt

Meine Rebellion als Teenager war der Wunsch nach Stabilität und trotzdem passierte genau das Gegenteil. Ständig wurde ich vom Leben von rechts nach links und von links nach rechts geworfen. Ich wurde freie Journalistin und Beraterin. Ich reiste ständig durch die Welt und verballerte mein ganzes Geld für Essen in Restaurants und eine exzentrische Garderobe, anstatt es so anzulegen, dass ich irgendwann mal eine Wohnung hätte kaufen können. Einmal, ich glaube es muss mein 25. Geburtstag gewesen sein, ging ich in eine Deutsche-Bank-Filiale und machte einen Bausparvertrag, den ich drei Jahre später wieder aus Geldnot kündigen musste. Das ganze bis dahin eingezahlte Geld war weg.

Während andere mit Ende Zwanzig vom freien Leben träumten und fleißig Geld anhäuften, war ich immer noch auf der Suche nach meiner Identität. 2011, da war ich mittlerweile 30 Jahre alt, schrieb ich monatelang einen Roman in einer heruntergekommenen Hütte in Ägypten am Roten Meer. Am Ende war das Manuskript unlesbar und mein ganzes Geld aufgebraucht. Beim Abi-Treffen ein halbes Jahr später kamen die meisten schon mit ihren Ehefrauen und Ehemännern, zeigten Bilder von ihren Kindern und den dazugehörigen Reihenhäusern. Ich war Single, Philosophie-Studentin und verdiente mein Geld als Redakteurin für einen Beauty Online Store. Auf dem Weg nach Hause begann ich schon im Taxi zu weinen und dachte an meinen geplatzten Teenagertraum. Warum hatten alle anderen längst dieses gute Leben, das ich mir schon so lange wünschte? Nur ich nicht?

Als ich im Februar 2014 eine Titelgeschichte für das Wochenblatt „Der Freitag“ schrieb, provozierte ich mit einem Text über Feminismus einen dermaßen aggressiven Shitstorm, dass ich mich nicht einmal mehr in meinen Kiez-Kaiser’s traute und stattdessen einen Flug nach Thailand buchte, um vor den Anfeindungen und einer entstehenden Magenschleimhautentzündung davonzulaufen.

Aus Fehlern lernen

Dort saß ich wieder in irgendeiner heruntergekommenen Strohhütte, diesmal auf einer einsamen Insel in der Andamanensee und schrieb an einem neuen Roman. Wieder von meinem letzten Ersparten, wieder mit der Idee im Kopf, Schriftstellerin werden zu wollen. Nach fünf Wochen flog ich zurück, hatte 50 Seiten geschrieben und schickte sie diesmal einer Literatur-Agentur, die mich sofort aufnahm. Diesmal schien der Stoff also nicht so unlesbar wie beim ersten Manuskript. Dann schloss ich mein Philosophie-Studium noch schnell mit 1,2 ab und buchte den nächsten Flug: Es ging nach Tel Aviv.

Ich weiß noch genau, wie ich dort zwei Tage nach meiner Ankunft aufwachte und dachte, was ist, wenn es wieder so wird wie beim ersten Mal? Was ist, wenn du wieder monatelang an einem Manuskript arbeitest, das unlesbar ist? Was ist, wenn du niemals aus deinen Fehlern lernst?

Aber da gab es eine unbestimmte Kraft in mir, die nicht ablassen konnte, die dieses Ziel erreichen wollte, die sich sicher war, nicht denselben Fehler zu begehen, sondern etwas erreichen wollte, um endlich glücklich sein zu können. Und diese unbestimmte Kraft hatte Recht: Drei Monate später verkaufte ich mein Manuskript an einen der größten deutschen Verlage und weitere sechs Monate später war ich schwanger und verlobt.

Mit einem Mal hatte ich fast alles, wovon ich immer geträumt hatte. Ich war mir sicher, jetzt würde alles gut werden. Jetzt beginne mein ruhiges, stabiles und bodenständiges Leben. Ich wurde eine erfolgreiche Schriftstellerin, tourte durchs Land, bekam Literaturpreise und meine erste Tochter. Da war sie endlich, die Erfüllung meiner Teenagerwünsche.

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Zwei Jahre sind seitdem vergangen und ich musste lernen, dass mein Teenagertraum längst überholt war. Dass Familienleben heute auch anders aussehen kann als Mutter, Vater, Kind. Nämlich: Mutter und Tochter. Oder Vater und Tochter. Oder Vater, Vater, Kind. Dass ich jetzt eine erfüllende Karriere habe, die aber niemals nach dem Nine-to-five-Muster funktionieren wird und dass man sich vom Schreiben keine Eigentumswohnung leisten kann, aber dafür innerlich zufrieden ist. Ich musste lernen, dass sich die Welt mit mir und unabhängig von mir verändert hatte.

Am Ende muss man sich selbst und seine Vorstellungen von einem guten Leben – und das fordert die neue Welt von einem in sehr radikaler Weise – immer wieder hinterfragen. Man muss nachjustieren: Passt diese Idee von einem guten Leben eigentlich noch zum Jetzt? Was ist Phantasie und was ist längst Realität? Und wieso hänge ich so krampfhaft an Altem fest, wenn das Neue mich vielleicht sogar glücklicher machte? Ein gutes Leben zu führen, heißt in Einklang mit sich selbst und der Welt gleichermaßen zu sein. Wie eine gute Beziehung.

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