Zeit-Gedanken

Zeit im historischen Wandel

Lesezeit:
3 minuten

24 September 2018

Wir haben das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam besucht, um zu erfragen wie die Disziplin Geschichte Zeit definiert

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24 September 2018
Schnelligkeit darf nicht länger als Wert an sich hingenommen werden. Wir haben Forscher aus sechs Disziplinen nach ihrer Sicht auf die Zeit gefragt. Als erstes besuchen wir den Historiker Rüdiger Graf vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam

Der Blick auf die Forschung macht klar: Es greift zu kurz, Zeit vor allem als persönliches Effizienzproblem zu betrachten und händeringend nach Wegen aus Time-Stress zu fragen. Zeit also, den Blick zu erweitern. Wir haben Wissenschaftler gefragt: Was beschäftigt Sie am Phänomen der Zeit? Herausgekommen ist kein How-to in besserer Zeiteinteilung, sondern ein Streifzug durch die Wissenschaft, voller Anregungen. Von einem Historiker wollten wir wissen: Inwieweit haben sich Zeit- und Zukunftsvorstellungen im Laufe der Geschichte geändert?

Geschichte
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wer den Historiker Rüdiger Graf fragt, wie sich die Erfahrung und Bedeutung von Zeit in der Geschichte verändert hat, dem erzählt er vom Alltag der Menschen im Mittelalter und früher Neuzeit. Als das Thema im täglichen Leben noch eine vergleichbar einfache Sache war – denn Zeit wurde nicht von Terminkalender und Uhr bestimmt, sondern vom Tag-und-Nacht- Rhythmus, der Jahreszeit und dem Zyklus der Landwirtschaft, von den Ritualen der Kirche und der weltlichen Macht. Im 14. Jahrhundert änderte sich das langsam: Wirtschaft, Handel und Naturwissenschaft boomten, mechanische Uhren wurden erfunden, erst prangten sie an Kirchtürmen, später zogen sie in die Haushalte ein, ließen sich in die Tasche stecken oder an den Arm binden. „Zeit wurde standardisiert und taktete die Rhythmen des Alltags, vor allem seit der Industrialisierung mit ihren festen Arbeits- und Produktionszeiten in den Fabriken“, sagt der 43-Jährige.

Wie hat der neue Umgang mit Zeit die Vorstellung von der Zukunft verändert? Niemand hat das so auf den Punkt gebracht wie Reinhart Koselleck, einer der bekanntesten Historiker des 20. Jahrhunderts. Seine These: Während die Menschen vor der Industrialisierung und der Französischen Revolution Zeit als etwas Zyklisches, Vorherbestimmtes sahen, das in einem fernen Paradies irgendwann zu seinem gottgewollten Ende kommt, entstand um 1800 die Idee einer linearen Zeit mit offener Zukunft, die Menschen selbst gestalten können. Den Grund für diesen Wandel sah Koselleck darin, dass die Welt komplexer wurde, sich immer schneller veränderte.

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Aus den Erfahrungen, die die Menschen im Alltag machten, konnten sie keine Voraussagen für ihr zukünftiges Leben mehr ableiten. Alles war offen. Für wie planbar halten wir heute unsere Zukunft? „Seit den 70er-Jahren hat der Glaube an die Gestaltbarkeit einen Dämpfer bekommen“, sagt Rüdiger Graf. Es ist keine Rede mehr von den großen Utopien, denen die westlichen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert entgegenfieberten – vom Kommunismus bis zum technischen Fortschrittsdenken. Längst haben wir die negativen Folgen der technischen Entwicklung im Blick. Zukunft gestalten heißt deshalb zunehmend: zu versuchen, die negativen Entwicklungen im Griff zu behalten. Das ist das Anliegen der Ökobewegung seit den 70er-Jahren – und das der Weltpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit Organisationen wie der UNO oder dem IWF um Planbarkeit und Sicherheit ringt. Die Risiko- und Resilienzforschung in den späten 80er-Jahren verabschiedete sich dann fast vollständig von der Idee einer planbaren Zukunft. Sie fächerte vielmehr ein Tableau an Risiken und Katastrophen auf, auf welche die Gesellschaft zusteuert und auf die sie sich bestenfalls vorbereiten könne – wie den Klimawandel.

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Enorme Pluralisierung von Zeit und Zukunft

„Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie eng der Zusammenhang von Politik und Zeit ist“, sagt Graf. „Hinter jeder politischen Position steht ein spezifisches Zeitmodell.“ Weil die demokratischen Kräfte in der Weimarer Republik an eine lineare Entwicklung glaubten, setzen sie auf Reformen. Demgegenüber vertraten ihre extremistischen Kontrahenten, die die bestehende Ordnung bekämpften, ein Zeitkonzept von Bruch und radikaler Erneuerung. Heute steht das Zeitthema wieder ganz oben. Das „Wird schon“ der Demokraten verliert an Attraktivität, Katastrophenszenarios von Populisten gewinnen Zulauf. Erst der vermeintliche Zeitdruck verleiht ihrer Botschaft Flügel. Sie behaupten: Wir stehen an einer weltgeschichtlichen Wende und müssen jetzt alles radikal ändern, sonst kommt es zur Katastrophe.

Vielleicht sei es nie wichtiger als heute, nach der Zeit zu fragen, wenn wir über Gesellschaft reden, glaubt Graf. „Wir erleben eine enorme Pluralisierung von Zeit- und Zukunftsvorstellungen und von Zeitpraktiken.“ Apokalyptische Ängste, zum Beispiel vor Einwanderung, stehen neben der Digitalisierungseuphorie. Businessmenschen hoppen durch globale Zeitzonen und drehen sich immer schneller in einem digitalisierten Alltag. Andere Milieus hingegen tangiert diese Beschleunigung nicht einmal am Rande: „Die Menschen leben nicht mehr synchron.“ Und wo im medialen Geschwirr aus unzähligen Kanälen längst auch eine gemeinsame Zeit der Öffentlichkeit fehlt, stellt sich für Graf mehr denn je die Frage, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zukunft funktionieren soll.

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