Familie 2020
Was Familie heute bedeutet
4 minuten
14 April 2018
Titelbild: Henrique Macedo / Unsplash
Die Familie wandelt sich – trotzdem ist sie so wichtig wie eh und je
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14 April 2018
Neulich war wieder so ein Abend, wie ihn Virginie und Matthias so gerne mögen. Die Miesmuscheln dampften auf dem Herd, die Pommes lagen im Ofen, Wein und Apfelschorle standen auf dem Esstisch. Um ihn herum vier Kinder, zwei Eltern, ein Onkel, eine Cousine. Plaudern, essen, Quatsch machen. Und, wie an diesem Abend, gemeinsam Geburtstag feiern, den von Jona. „Es war herrlich“, sagt Virginie. „Lustig, gemütlich, mit viel Zeit zu reden“, sagt Matthias. „Einfach Familie“, sagen beide.
Berlin Mitte, Brunnenstraße. Eine Altbauwohnung mit Dielen und hohen Fenstern. Seit zwölf Jahren leben Virginie und Matthias hier mit ihren Kindern. Eine klassische Patchworkfamilie. Da sind Virginies Töchter Lisa und Jeanne, 20 und 17 Jahre alt, da ist Matthias Sohn Jona, 19. Dass die drei tageweise – und nach ausgetüftelten Sharing-Modellen – zu den Patchworkfamilien ihrer anderen leiblichen Elternteile pendeln, mindert die Intensität des Familienlebens in der Brunnenstraße nicht. Aber Rituale sind in einer neu entstandenen Familie vielleicht noch wichtiger – wie das gemeinsame Abendessen mit allen, die da sind. Tom ist immer dabei, die Nummer vier im Bunde, der siebenjährige Sohn von Virginie und Matthias. Sie sagt: „Er hat unsere neue Familie endgültig besiegelt.“
Eine Patchworkfamilie aufzubauen kostet Kraft. Man muss mit Geduld und Fingerspitzengefühl an der neuen Gemeinschaft arbeiten, unterschiedliche Erziehungsstile angleichen, Werte neu aushandeln, Konflikte und Unsicherheiten überwinden. Aber es lohnt sich, findet Matthias. „Familie gibt Wärme und Schutz. Wo sonst kann man schon etwas so Positives aufbauen, das irgendwann selbst zu laufen beginnt?“ Virginie ergänzt: „Ohne Familie geht es für mich nicht. Ich verstehe sie als bedingungslose Liebe, Zusammenhalt und eine Gemeinschaft, die riesig Spaß macht.“
Wie wichtig ist Familie heute?
Familie 2018 – es scheint, als habe sie nicht an Attraktivität verloren. Dabei war der Abgesang auf die Familie jahrelang groß. Soziologen sahen Anzeichen für ihren Zerfall; in Zeiten steigender Scheidungsraten schien das Modell der Lebensgemeinschaft Familie als Kernzelle der Gesellschaft immer weniger tragfähig. Und wozu sich eigentlich lebenslang auf ein Lebensmodell verpflichten, dass nicht mehr überlebensnotwendig ist? „Jahrhundertelang war die Familie eine Versorgungsgemeinschaft“, sagt die Bochumer Familienforscherin Birgit Leyendecker. „Sie sicherte die Familienmitglieder ökonomisch ab und definierte ihren sozialen Status sowie ihre Rolle in der Gesellschaft.“ Beides hat heute an Bedeutung verloren. Staatliche Systeme übernehmen weitgehend die soziale Absicherung. Auch der normative Rahmen hat sich in unserer individualisierten Gesellschaft längst erweitert.
Wo sich Geschlechterrollen von klassischen Bildern lösen und die Partner zunehmend finanziell unabhängig voneinander sind, braucht es keine Familienstrukturen, um zu zeigen, wo man steht. Die neue Kernfunktion der Familie heißt: Emotion. Von einem „Shift vom Faktor Versorgung zum Faktor Gefühl“, spricht der Berliner Familienexperte und Buchautor Wolfgang Krüger. Auch Familienforscherin Leyendecker kann diese These mit Forschungsergebnissen unterfüttern. So hat die weltweite Studie „Value Of Children Studies“ vor einigen Jahren gezeigt: In allen Ländern mit sozialen Sicherungssystemen sehen Menschen die zentrale Aufgabe von Familie in ihrem emotionalen Wert. Leyendecker sagt: „Die Familie soll Schutzraum sein, ein Ort, an dem man sich aufgehoben fühlt, selbstverständlich füreinander da ist, sich bedingungslos vertrauen kann.“
Den hohen Stellenwert von Familie bestätigen auch ihre eigenen Untersuchungen. Regelmäßig fragt die Forscherin Eltern von Kleinkindern aus mehreren Ländern nach ihren wichtigsten Sozialisationszielen bei der Erziehung. „Ganz vorn steht in Deutschland über alle Schichten hinweg: Ein Bewusstsein für den hohen Wert von Familie schaffen, gutes Miteinander und Zusammenhalt vorleben.“ Wo Emotionalität der Kern von Familie ist, verliert die biologische Gemeinsamkeit an Bedeutung. Form und Zusammensetzung einer Familie werden zweitrangig.
Mehr Alleinerziehende, mehr Regenbogenfamilien
Leibliche Eltern mit ihren Kindern, kompliziert verästelte Patchwork-Geflechte, Alleinerziehende, Adoptiv-Familien, Stiefeltern, die den Nachwuchs ihrer Ex-Partner aufziehen, gleichgeschlechtliche Paare, die eine Familie gründen – alles ist möglich. Familienexperte Krüger beobachtet: „Gerade in den Großstädten haben sich die Spielarten von Familien in den vergangenen zehn Jahren enorm erweitert.“ Schon jetzt ist jede dritte Familie im urbanen Raum eine Patchworkfamilie. In zehn Jahren, schätzt Krüger, wird sie die Alleinerziehenden als zweithäufigste Familienform nach der so genannten „Normalfamilie“ – zwei biologische Eltern und ihre Kinder – abgelöst haben.
Wie weit unser Familienbegriff heute geworden ist, zeigt sich auch in der wachsenden Zahl von Regenbogenfamilien. Vor zehn Jahren noch eine Rarität, gehören sie heute in Großstädten zum Kaleidoskop der neuen Vielfalt. In Berlin und München gibt es bereits Beratungsstellen und Begegnungsorte für gleichgeschlechtliche Familien. Marion Lüttich von der Beratungsstelle Treffpunkt in München: „Immer mehr homosexuelle Paare wagen den Schritt.“ Wie sie selbst. Auch ihr ging es um Halt, Gefühl, Schutz, als sie und ihre Frau nach zweieinhalb Jahren Eheleben beschlossen, eine Familie zu gründen. Es funktioniert so gut mit uns, wieso werden wir nicht gemeinsam Eltern, fragten sie sich. Lüttich nahm Kontakt zu einer niederländischen Samenbank auf, wurde schwanger. Heute geht ihre Tochter Mira in die zweite Klasse und weiß: Es gibt da „einen Mann, der ihren Mamas geholfen hat, sie zu bekommen“.
Die Außenwelt irritiert das Modell manchmal immer noch: Zwei Mütter, ein Kind? Lüttich sagt, sie müsse sich oft erklären. „Bei Kindern ist es einfacher. Aber Erwachsenen sitzt die heterosexuelle Normvorstellung im Kopf. Wer ist denn jetzt die richtige Mutter? Und wer ist der Mann bei Ihnen?“ Nach Einschätzung von Familienexperte Krüger könnte die Familie in Zeiten der globalen Verunsicherung sogar noch wichtiger werden. „Der Mensch braucht kleine Einheiten, in denen er sich sicher fühlt, Täler, in denen man sich von einem Rand zum anderen zurufen kann.“ Im Gegensatz zur biologisch begründeten Versorgerfamilie von einst muss die moderne Familie als emotionales Zentrum aber immer wieder neu erobert und mit Leben gefüllt werden. Sie ist keine Zwangsgemeinschaft mehr, sondern ein Wahlbündnis – dessen Mitglieder nur bleiben, wenn die Bilanz für sie stimmt. Weniger Verbindlichkeit ist der Preis der neuen Freiheit.